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Tagesarchive: 16. Mai 2016

Open Ohr: Eiskalt, voll, tolle Musik und spannende Erkenntnisse zum Thema „Heimat“

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Kalt war es, eiskalt – das Open Ohr 2016 gehörte sicher zu den kältesten seiner Geschichte. Regen, klar, das war nie ein Problem auf dem Open Ohr – aber Temperaturen von um den Gefrierpunkt? Brrrr…. Trotzdem kamen Tausende zum Festival auf die Zitadelle, und sie wollten diskutieren: Über Heimat, Heimatstolz, Recht auf Heimat und die Angst um die Heimat – spannende Diskussionen mit leider nicht immer versierten Moderatoren. Dazu tolle Musikacts, die die Festivalbühne rockten – der Name „Get Well Soon“ wurde da zum Programm 😉

Open Ohr 2016 - Neue Heimat basteln
Kann man sich eine neue Heimat basteln? Nun, zumindest für Zugeflogene 😉 Das Open Ohr 2016 – Foto: gik

Es war schon das zweite Open Ohr, das sich nach „Kein Land in Sicht“ 2015 mit den Befindlichkeiten dieser unserer Heimat befasste. „Seit wir uns vor einem Jahr trafen, um über die Flüchtlingspolitik zu diskutieren, hat sich die Diskussion zugespitzt“, befand die Freie Projektgruppe des Open Ohrs: Während die einen auf die Straße gehen, um ihre „Heimat“ vor Überfremdung zu retten, wollen die anderen Geflüchteten eine „neue Heimat“ bieten – doch welche Heimat meinen eigentlich die jeweiligen Parteien?

Es war eine Frage, die umtrieb, das Publikum manchmal mehr, als die Diskutanten auf den Podien. Die Diskussionsrunden litten zuweilen unter Vortragenden, die sich allzu einig waren oder die allzu Bekanntes von sich gaben, manche unter Moderatoren, die es nicht verstanden, ihr Thema spannend in die Hand zu nehmen. „Laaangweilig“, hallte gar ein Zwischenruf beim Eröffnungspodium „Heimatstolz“ über die Menge – da sollte die Projektgruppe eine ehrliche Bilanz ziehen.

Denn es gab wahrhaft viel Spannendes zum Thema „Heimat“ zu entdecken: „Wir würden nicht über Heimat diskutieren, wenn wir nicht herausgefordert würden durch das Erlebnis von Nicht-Heimat“, sagte da etwa der Geograf Kühne – erlebt sich Heimat also vor allem im Verlust von Heimat? Klar wurde: Heimat ist etwas zutiefst individuelles, aber zugleich auch etwas, das an Landschaft, Sprache und Menschen gebunden ist. Heimat, das sei für sie das Nahetal, sagte etwa CDU-Landeschefin Julia Klöckner.

Dom mit Liebfrauenplatz
Heimat – für viele Mainzer ist das eindeutig der Dom – Foto: gik

Und viele Menschen empfinden ihre Heimat auch dann noch als Heimat, wenn es in ihr Unrecht, Krieg und den Verlust der Menschenrechte gibt. Trotzdem verlassen diese Menschen ihre Heimat, um woanders ihr Heil, ihr Glück zu suchen. Wie aber „findet“ man eine neue Heimat? „Heimat ist nichts Statisches, sie verändert sich, kann erworben werden“, sagte die Ethnologin Mareike Späth – „Beheimaten“, das bedeute, eine Gegend „von innen heraus zu verstehen.“

In einer neuen Region aber vollkommen akzeptiert zu werden, das dauere lange, berichtete Geograf Olaf Kühne – Studien hätten gezeigt, dass oft erst die dritte Generation nicht mehr als „Zugereiste“ gesehen werde. Hallo Mainzer – wie oft habt Ihr schon Menschen, die seit 20, 25 Jahren hier leben, noch als „Zugezogene“ bezeichnet, hm?

„Heimat hat zwei Dimensionen, mindestens“, meinte auch Kühne: die der eigenen Person, und die der Gesellschaft, und so lasse sich eben auch die Frage stellen: „Lässt man mich sich beheimaten?“ Heimat habe nämlich auch sehr viel mit Macht zu tun, erklärte Kühne: Wer darf teilhaben am gesellschaftlichen Miteinander, welche Position darf jemand besetzen? „Wer zuzieht, muss sich erst einmal bewähren“, erklärte Kühne – das sei überall auf der Welt so.

Die deutsche Gesellschaft, meinte aber Christian Osterhaus, Geschäftsführer der Jugendhilfsorganisation Don Bosco, „hat sehr viele Stacheln, es ist sehr schwer, in dieser Gesellschaft anzukommen.“ Ob die schwierige deutsche Sprache oder die Bürokratie, ob Wohnung oder Job, „diese deutsche Heimat ist sehr schwer zu erobern“, berichtete  Osterhaus – Don Bosco kümmert sich weltweit um Jugendliche auf der Straße und in Armut, und hilft auch Migranten bei der Integration in Deutschland.

Open Ohr 2016 - Propevolle Hauptwiese am Samstagabend
Heimat trotz Kälte: Die Hauptwiese beim Open Ohr am Samstagabend war proppevoll – Foto: gik

Akzeptiert zu werden, sei doch gar kein Problem, meinte hingegen der digitale Nomade und Blogger Nicolas Martina alias Travel Echo, ob in Mexiko oder Bolivien, er habe nie irgendwo Probleme gehabt. Doch Nic bleibt nirgends länger als ein paar Wochen – und erzählte freimütig, er könne ja auch jederzeit mit Freunden und Familie zuhause Skypen, Dank moderner Technik. Da feierte jemand seine Freiheit ganz offensichtlich auf der Grundlage einer weiter vorhandenen Heimat mit Wurzeln an einem Ort…

„Heimat ist eine Utopie“, glaubte aber auch Max Pichl von Pro Asyl, mit dem Begriff könne er nun wirklich nichts anfangen – da schwangen dann Assoziationen von Heimatfilm und Hirsch am Bergsee mit 😉 Pichl wehrte sich gegen einen ausgrenzenden Heimatbegriff, und gegen den Begriff „Heimat“ überhaupt: Bei der Flüchtlingspolitik und in der Integration gehe es um einen Kampf für Menschenrechte, „da passt es nicht, Begriffe zu benutzen, die im linken Spektrum keine Tradition haben“, kritisierte Pichl.

Open Ohr 2016 - Podium mit Barley Köbler Brück
Spannendes Podium mit dem Grünen Daniel Köbler (ganz links) und SPD-Generalsekretärin Katharina Barley (2.v.rechts) – Foto: gik

„Ich glaube, wir machen seit vielen Jahren einen Fehler, in dem wir Begriffe wie „Heimat“ den Rechten überlassen“, entgegnete der Grünen-Politiker Daniel Köbler – und plädierte dafür, sich genau solche Begriffe wie „Heimat“ zurückzuholen. „Heimat ist ein sehr individueller, emotionales Thema, und zunächst einmal nichts Negatives“, betonte Köbler, der Begriff werde doch erst zum Problem, wenn er zum Ausgrenzen benutzt werde.

Das sah übrigens auch die neue Generalsekretärin der Bundes-SPD so: Den Rechten die „Heimat“ zu überlassen, sei eine Kapitulation, warnte Katharina Barley – die gebürtige Triererin war zum ersten Mal aufs Open Ohr gekommen, und ganz einer Meinung mit Köbler. „Die Rechten greifen sich gerade Begriffe wie „Solidarität“ und „Mehr Demokratie wagen““, berichtete sie, „die versuchen, Wohlfühl-Begriffe für sich zu kapern, das dürfen wir ihnen nicht überlassen.“

Geht also die „Angst um die Heimat“ um? Zumindest machten sich viele Leute Sorgen um die Errungenschaften dieser „Heimat“, um Demokratie, freie Rede und Menschenrechte. Wer also schützt die Heimat – und wer schützt sie wovor? Der Verfassungsschutz der Bundesrepublik Deutschland begriff seinen Job jedenfalls lange nicht als Schutz der Verfassung, sondern als Schutz des Staates vor dem Bürger, berichtete der Zeithistoriker Michael Wala, der die Geschichte des Verfassungsschutzes nach dem Zweiten Weltkrieg erforscht hat. Ud Wala stellte fest: Nein, Altnazis waren im Verfassungsschutz vergleichsweise wenige beschäftigt, nur begriff man sich eben in erster Linie als Regierungsschutz – was sich erst langsam ändere.

Open Ohr 2016 - Wala und Marx mit Mück-Raab
Historiker Wala mit NSU-Ausschuss-Vorsitzender Marx (rechts) mit der Journalistin Marion Mück-Raab (Mitte) – Foto: gik

Der Verfassungsschutz habe auch in Sachen der Terrorgruppe NSU vieles gewusst, seine Erkenntnisse aber nicht an Polizei und Ermittler weiter gegeben, berichtete Dorothea Marx, Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses in Thüringen. „Man versteht sich als Geheimbund“, berichtete sie – und dass Thüringen dem jetzt mit einer verschärften Kontrolle des Verfassungsschutzes durch die Parlamentarier entgegen steuere.

Der Verfassungsschutz sei zur Abwehr notwendig, befand auch Wala, aber er müsse sich ändern: „Er sollte mehr Analyse betreiben, mögliche Zersetzung der Demokratie beobachten“, schlug Wala vor, es brauche einen neuen „Verfassungspatriotismus“, der wirklich die Verfassung schütze – und nicht primär sich selbst.

„Dieses Land bietet mir so viel an Rechtsstaatlichkeit und den Rechten des Individuums“, sagte denn auch Rahim Schmidt, „deshalb gehe ich nicht zurück in den Iran.“ Der Grünen-Politiker kam vor 35 Jahren aus seiner Heimat Iran nach Deutschland, heute trägt der Arzt einen deutschen Nachnamen, sieht Deutschland als seine Heimat – und bezeichnet sich doch immer noch als Gast in diesem Land. Heimat, so wurde klar, bleibt ein schwieriger, ein zwiespältiger Begriff.

Open Ohr 2016 - Lampenschirme in den Bäumen
Wenn die Bäume voller Lampenschirme hängen, dann ist Heimat auf dem Open Ohr – Foto: gik

Und es waren, wie immer auf dem Ohr, die kleinen Dinge nebenher, die weiter Denkanstöße dazu gaben: Da waren zäunte bei den Walking Acts die Theatergruppe Spielsache immer wieder Gruppen von Besuchern ein und forderte sie heraus, über Labyrinthe, Sicherheiten und Wege nachzudenken. Und in den Bäumen auf der Festivalwiese hingen in diesem Jahr statt Lampions altmodische Lampenschirme, ganz wie im heimischen Wohnzimmer. Und mit Hilfe von Schaltern unter den Bäumen konnten die Open Ohr-Besucher das Licht an- oder ausknipsen, je nach gerade vorherrschendem Heimatgefühl.

Die Heimat besser kennen zu lernen, dazu lud das Stadthistorische Museum auf der Zitadelle ebenso ein wie Mundartführungen „Vun de Vilzbach zu de Umbach“, eine Weinprobe auf Rheinhessisch oder die Trips durch die unterirdischen Gänge der Zitadelle. „Wolle mer se eroilasse“, scherzte da ein Besucher in einem unterirdischen Raum – und offenbarte, wie wenig er über seine neue Heimat doch wusste: Der Spruch komme doch irgendwie aus Köln, von der alternativen Stunksitzung, meinte der junge Mann – in völliger Unkenntnis des Ursprungs: Der Fernsehfastnacht „Mainz bleibt Mainz.“

Open Ohr 2016 - Dubioza Kolektiv rocken die Hauptwiese
Dubioza Kolektiv rocken die Hauptwiese auf dem Open Ohr 2016 – Foto: gik

„Making Heimat“ – das Motto des deutschen Pavillons auf der Biennale in Venedig in diesem Jahr gilt so nicht nur für Flüchtlinge. Schade, dass die Vertreterin des Deutschen Architekturmuseums es nicht wirklich schaffte, das Projekt und seine Dimension deutlich zu machen – sie verriet aber, dass die Ausstellung 2017 auch in Frankfurt zu sehen sein wird.

„Die offene Gesellschaft ist meine Heimat“, fasste denn auch die Grünen-Landtagsabgeordnete Pia Schellhammer zusammen, wohin die Diskussion geht, „das kann sich aber verknüpfen mit einer regionalen Verwurzelung.“ Es ist das Bemühen den Begriff „Heimat“ zurückzuerobern: Weg von einem ausgrenzenden, grenzbehafteten Begriff und hin zu einem, der in Zeiten grenzenloser Globalisierung neuen Halt gibt: Wurzeln, Herkunft, Zugehörigkeit. Heimat eben.

Open Ohr 2016 - Get Well Soon dunkel
Get Well Soon mit toller Bühnenshow auf dem Open Ohr 2016 – Foto: gik

Beinahe hätten wir dabei vergessen, die Musik zu erwähnen: Cool war’s. Bunt und vielfältig. Von Dubioza Kolektiv, die mit einem völlig irren Mix aus einfach allen Musikstilen am Samstagabend der Hauptwiese die kalten Temperaturen austrieben bis hin zu den Headliner von „Get Well Soon“, die manchmal etwas zu getragen, meist aber mit coolen Riffs große Show inszenierten. Fantastisch, vielfältig – Heimat in Weltmusik, das ist die Musik auf dem Open Ohr. Und so wurde gefeiert, getanzt, geklönt und den eisigen Temperaturen getrotzt. Und wie sagte Festivaldezernent Kurt Merkator (SPD) so schön: „Die Eisheiligen sind schließlich auch ein Stück Heimat.“

Info& auf Mainz&: Alle offiziellen Infos zum Open Ohr findet Ihr im Internet unter www.openohr.de.

 

 

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Eine Karlscam zum Abschied vom Volksbischof – Mainz und die Welt würdigen Karl Lehmann zum 80.

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Nun ist Kardinal Karl Lehmann, Altbischof von Mainz, im Alter von 81 Jahren gestorben. - Foto: Screenshot gik

Es war ein Abschied voller Feierlichkeit und voller Humor, Fußball, Fastnacht und vor allem Brücken spielten eine wichtige Rolle: Mainz hat seinen Bischof, Karl Kardinal Lehmann mit Wehmut und vielen guten Glückwünschen in den Ruhestand verabschiedet. Der Papst nahm das Rücktrittsgesuch zum 80. Geburtstag Lehmanns an, um 12.00 Uhr wurde es offiziell verkündet. Derweil wurde in Mainz gefeiert und gedacht – einem Menschenfreund, Büchernarren, Intellektuellen und vor allem einem Brückenbauer zwischen Religionen, Welten, Menschen. Und zum Abschied gab es ein besonderes Geschenk: Eine „Karlscam“, eine Webcam mit Live-Bildern vom Mainzer Dom.

Lehmann von hinten im Dom beim Festgottesdienst zum Abschied - Screenshot SWR TV
Abschied von einem großen Hirten, Theologen und Menschenfreund – Karl Kardinal Lehmann bei seinem letzten Gottesdienst im Mainzer Dom – Foto: gik

Es war ausgerechnet der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), der den Mainzer Bischof mit den passenden Worten würdigte: „Sie waren ein Volksbischof.“ Lehmann sei „beliebt, aber nie beliebig“ gewesen, jemand, dessen Sache Schwarz-Weiß-Denken nie war. „Sie waren ein Glücksfall für Ihre Gläubigen, für die Kirche“, sagte Bouffier, „Sie waren ein Glücksfall für unser Land.“

Es war ein Tag der guten Glückwünsche, ein Tag der Würdigungen und des Dankes: 33 Jahre lang war Karl Lehmann Bischof von Mainz, am Pfingstsonntag legte er das Amt nieder. Der Anlass: Sein 80. Geburtstag – Lehmann wurde am 16. Mai 1936 in Sigmaringen geboren. 1983 wurde er Bischof von Mainz, 21 Jahre lang leitete er die Deutsche Bischofskonferenz als ihr Vorsitzender – mehr zu Lehmann und seinen Stationen findet Ihr in unserem großen Porträt „Abschied von Karlchen Lehmann“. Zu Beginn des Festaktes am Mittag in der Rheingoldhalle gabe es denn auch erst einmal ein Ständchen – von rund 800 Gästen in der Festhalle.

Berührende Ansprache von Kardinal Marx: „Du warst ein großes Geschenk“

Gottesdienst Mainzer Dom Abschied Lehmann - Screenshot SWR
Gottesdienst im Mainzer Dom zum Abschied von Karl Kardinal Lehmann als Mainzer Bischof – Foto: gik

Am Morgen gab sich in Mainz die Ehre, was Rang und Namen hat: Bischöfe, Kirchenpräsidenten  und Spitzen des Staates waren gekommen, um zu Gratulieren und Dank zu sagen. „Was gibst du uns mit?“, sagte Kardinal Reinhard Marx, der heutige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, in einer sehr persönlichen Ansprache im Mainzer Dom, und beantwortete die Frage natürlich auch gleich selbst: große Menschenfreundlichkeit, das innige Bedürfnis, Menschen die Liebe Gottes zu zeigen, aber auch die Wichtigkeit der Theologie und die Reflexion, das theologische Weiterdenken, dazu aber auch die Kollegialität und die Mitbrüderlichkeit, „immer und immer wieder hast du uns das gezeigt“, sagte Marx, und bekannte: „Karl, du bist für uns alle ein großes Geschenk gewesen.“

Es war eine bewegende Ansprache, die Marx da am Morgen im Mainzer Dom hielt, frei in der Rede, sehr persönlich und Lehmann zugewandt. Der Jubilar feierte seinen letzten Gottesdienst als Mainzer Bischof im Dom St. Martin, es schien ihm nicht immer leicht zu fallen. Wegen seiner Probleme mit dem Knie saß Lehmann die meiste Zeit auf einem Stuhl vor dem Altar im Zentrum des Doms, manchmal wirkte er alt, ein wenig müde – das Amt lastete am Ende zuweilen schwer auf ihm. Er freue sich darauf, seine Zeit ab Pfingstdienstag selbst bestimmen zu können, sagte Lehmann vor seinem Abschied.

Lehmann beim Gottesdienst zum Abschied in Mainzer Dom - Screenshot SWR TV
Lehmann beim Gottesdienst zu seinem Abschied als Mainzer Bischof im Dom – Foto: gik

Am Pfingstmontag im Dom sagte Lehmann nur wenig, seine Predigt bezog er auf das Johannes Evangelium: „Gott hat die Welt geliebt“, betonte Lehmann, und das sei eine „Liebe nicht nur für die Erwählten.“ Diese Liebe sei „geradezu verrückt“ und maßlos. „Wenn wir die Welt in ihrere ganzen Brutalität ansehen, können wir oft gar nicht glauben, dass Gott die Welt liebt“, sagte Lehmann, doch diese Liebe sei Realität, und sie könne motivieren, offener auf andere Menschen zuzugehen.

Dreyer: Wichtiger Ratgeber, Brückenbauer, Ohr für Frauen

Das war typisch für Lehmann, den Redner um Redner würdigten als jemanden, der auf Menschen zugeht. „Brücken bauen, über Brücken gehen, der konstruktive Dialog zwischen den Religionen und mit der Politik, das zeichnet sie aus und das bleibt mit Ihnen verbunden“, sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). Lehmann sei der Politik und auch ihr persönlich ein wertvoller Ratgeber gewesen, „er hat sehr viel Humor, er hat immer einen guten Rat“, bekannte sie. Und Lehmann habe „Kirche gelebt, wie ich es mir wünsche: ganz nah an den Menschen, an den Armen.“

Dreyer würdigte aber auch Lehmanns Einsatz für die Schwangerenkonfliktberatung im damaligen Konflikt mit dem Papst, ein Konflikt, in dem Lehmann durch das Machtwort des Papstes eine bittere Niederlage erlitt. Den Katholiken aber habe das gezeigt, „auf diesen Bischof ist Verlass“, erinnerte Dreyer. Lehmann aber habe auch immer ein offenes Ohr für die Frauen in der Kirche gehabt und sich für das Diakonat der Frau eingesetzt. „Wir Frauen denken ja noch weiter, aber wir wären ja schon glücklich, wenn das mit dem Diakonat klappen würde“, sagte Dreyer, die selbst einmal Theologie studiert hat.

Flüchtlingsfonds, Fußball und ein mutiger hessischer Löwe

Wappen Bischof Lehmann - Screenshot SWR TV
State in Fide, Fest im Glauben – das Motto des Bischofs Karl Lehmann – Foto: gik

Zu Lehmann passt auch, dass er zu seinem Geburtstag keine persönlichen Geschenke wollte, sondern stattdessen Spenden sammelte – für einen gerade von ihm gegründeten Flüchtlingsfonds. Und Dreyer ebenso wie Bouffier bekannten artig, sie hätten natürlich auch schon gespendet. Trotzdem gab es auch noch andere Geschenke: Ein Kiste mit bestem rheinland-pfälzischen Weinen warte im Bischofshaus auf ihn, sagte Dreyer. Und Bouffier hatte ihm einen hessischen Löwen mitgebracht: „Er ist mutig und er ist stark, und er passt zu Ihnen“, sagte der hessische Ministerpräsident: „Den großen Hessen-Löwen für einen mutigen Mann.“

Lehmann war auch ein hessischer Bischof, zwei Drittel des Bistums Mainz liegen in Hessen, für rund 500.000 Katholiken war Lehmann der Oberhirte. „Ihnen ist etwas gegeben, das Sie ausgezeichnet“, sagte Bouffier, und zählte auf: „Intellektuelle Brillanz, stabiles Glaubensfundament und unerschütterliche Zuversicht“, dazu „bischöfliche Autorität, intellektuelle Autorität und gelebte Bodenständigkeit.“ Lehmann sei nie abgehoben gewesen, „deshalb waren Sie ein besonders glaubwürdiger Vertreter Ihrer Kirche“, betonte Bouffier – und nutzte die Gunst der Stunde, angesichts so vieler versammelter Kirchenfürsten, um Beistand zu erbitten: für den Verbleib von Frankfurt in der 1. Bundesliga.

Obermessdiener: „Ein Kardinal zum Knuddeln“, ein echter Mainzer

Das sorgte für erhebliche Heiterkeit beim Festakt in der rappelvollen Rheingoldhalle, wie überhaupt viel gelacht wurde. Auch die Fastnacht gratulierte – in Form des „Obermessdieners“ Andreas Schmitt: Lehmann sei immer ein guter Chef gewesen, sagte Schmitt, der selbst im Bischöflichen Ordinariat arbeitet. „Die Mainzer würden sagen: Ein Kardinal zum Knuddeln“, sagte Schmitt. Auch aus Liverpool kam eine Grußbotschaft: „Lieber Karl“, gratulierte niemand anderes als „Kloppo“ Jürgen Klopp, „Förmlichkeit ist in diesem Moment nicht das Wichtigste.“ Nein, nicht in Mainz, und Mainzer seien beide, betonte der Mainz 05-Extrainer: „Wir waren nicht von Anfang an Mainzer, aber wir wurden Mainzer.“

Lehmann zwischen Marx und Giebelmann beim Festakt Abschied - Screenshot SWR TV
Lehmann zwischen Kardinal Reinhard Marx, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, und dem Mainzer Generalvikar Dietmar Giebelmann beim Festakt in der Rheingoldhalle – Foto: gik

„Sie haben uns tief geprägt“, sagte denn auch der Mainzer Generalvikar Dietmar Giebelmann, und dankte im Namen aller Mitarbeiter dem Bischof und Kardinal – und hatte dabei eine Träne im Auge. „Sie sind längst ein Mainzer, was einen Mainzer eben so ausmacht“, sagte Giebelmann: „lebensfreudig, mitfühlend, und einer Heimat verbunden, deren Herz der Dom ist.“

Ebling: „Da lacht ein Aug‘, und eines weint“

„Weltoffen, tolerant, Leben und Leben lassen – sie passen in diese Stadt“, dankte auch der Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD), und bekannte, es sei „ein gutes Gefühl“, Lehmann auch in Zukunft im Bischofshaus zu wissen. Lehmann habe viel erreicht in der Stadt, für den Glauben und für den sozialen Zusammenhalt, sagte Ebling, und er freue sich mit, wenn Mainz 05 nun in der Europaleague spiele. Der Pfingstmontag sei deshalb auch ein besonderer Tag für die Mainzer, und in die Freude über den Geburtstag mische sich auch aufrichtiges Bedauern über den Abschied. „Wie sagen wir Mainzer“, fügte Ebling hinzu: „Da lacht ein Auge, und eines weint.“

Es gab weitere Grußworte und Grußbotschaften aus der ganzen Republik: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) etwas steif, der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) herzlich-verschmitzt, Ex-Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) und Showmaster Thomas Gottschalk: „Bleiben Sie heiter, machen Sie weiter!“ Und selbst die Mannschaft von Fußball-Erstligist Mainz 05 grüßte per Videobotschaft – mit einem Geburtstagsständchen.

Martin Schulz bittet um Beistand für Europa

Festredner beim Festakt aber war ein besonderer Europäer: Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments und Sozialdemokrat, hielt auf Wunsch Lehmanns die Laudatio. „Kardinal Lehmann ist ein Institution in Deutschland“, sagte der, „intellektuelle Brillanz und menschliche Zugänglichkeit haben ihn zu einer besonderen Persönlichkeit gemacht.“ Lehmann gebe Orientierung in Zeiten der Orientierungslosigkeit, er lebe Nächstenliebe, er baue Brücken und er inspiriere Vertrauen, sagte Schulz. Und der EU-Parlamentspräsident erbat etwas von dem Jubilar: „Lassen Sie uns den Glauben an uns selbst wiederfinden – und Sie können uns dabei Vorbild sein.“

Festredner Martin Schulz Abschied Lehmann - Screenshot SWR TV
Mahner für Europa: Festredner Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, beim Festakt für Karl Lehmann – Foto: gik

Mit „Wir“ aber meinte Schulz niemand anderes als Europa selbst, die Demokratie und die Menschen darinnen. „Warum haben wir den Glauben an uns selbst verloren? Warum sind wir so verzagt geworden, obwohl wir so viel erreicht haben?“, fragte Schulz. Woher bloß komme der Hass von Manchen, die doch ein so sicheres Leben leben dürften, denen so viel geschenkt worden sei? Europa komme ihm zuweilen vor, wie der Scheinriese Turtur aus Michael Endes „Jim Knopf“: „Er erscheint groß, je weiter weg er ist, und er schrumpft immer mehr, je näher man ihm kommt, so ist das auch mit Europa“, sagte Schulz.

Für Millionen von Flüchtlingen auf der Welt sei „Europa ein Sehnsuchtsort“, ein sicherer Ort, ein Platz, wo man alles erreichen kann, wo man ein kleines bisschen Glück finden könne. „Darauf sollten wir stolz sein und im Sinne der Nächstenliebe reagieren“, mahnte Schulz. Stattdessen werde „wieder diskutiert, ob die Renaissance des Nationalen unsere Zukunft sein soll“, kritisierte Schulz, und fügte hinzu: „Wie absurd – angesichts der globalen Herausforderungen, die kein Nationalstaat allein bewältigen kann.“ Es gelte, Europa besser zu machen, nicht es abzuschaffen, „lassen Sie es uns besser machen“, appellierte Schulz.

Theologe Söding: „Selig, wer liest“

Festredner Nummer zwei, der Theologieprofessor Thomas Söding, würdigte Lehmann als großen Theologen. „Es schadet der politischen Kultur in Deutschland nicht, wenn man sieht, dass auch Katholiken denken können“, sagte er verschmitzt, Lehmanns theologisches Denken sei aber von den Realitäten der Menschen geprägt, das zeichne ihn aus. „Er hat ein Koordinatensystem ausgeprägt, das ihm erlaubt, menschliche Erfahrungen mit der Suche nach Gott zu verbinden“, sagte Söding – Lehmann, der Menschenfreund.

Lehmann mit Bischofsmütze und Hirtenstab im Mainzer Dom Abschied - Screenshot SWR TV
Der Hirte geht von Bord: Lehmann bei seiner letzten Amtshandlung mit Bischofsmütze und Hirtenstab im Mainzer Dom – Foto: gik

Doch auch beim Feiern habe Lehmann nicht abseits gestanden, „mit einer erstaunlichen Kondition“, berichtete Söding. „Ihr Wissensdurst ist immens, ihre Bibliothek sagenhaft“ – rund 120.000 Bände soll Lehmann in seinem Bischofshaus angesammelt haben, rund 4.000 (!) hat er selbst geschrieben. „Selig, wer liest, heißt es in der Johannes-Offenbarung“, sagte Söding, „ein Wort wie gemalt für Sie.“

Lehmanns Vermächtnis: Ökumene, Solidarität und Europa

Und der Jubilar selbst? Lehmann hielt am Ende noch eine ernsthafte Art Vorlesung, es wurde eine Art Vermächtnis: ein bescheidenes Menschenbild, „die denkende Erschließung des christlichen Glaubens“, Müdigkeit und Gleichgültigkeit in der Ökumene überwinden, die Bewahrung der Schöpfung und einer lebenswerten Natur sowie Geschwisterlichkeit und Solidarität mit dieser Welt. Und ganz besonders unterstrich Lehmann einen Dank an Schultz, der zugleich ein Appell war: „dass sie trotz so vieler Hindernisse mit hohem Einsatz an Europa festhalten.“ Die bunte Vielfalt, mahnte Lehmann, „sie muss auch stets auf der Suche nach Zusammengehörigkeit bleiben.“

Lehmann beim Festakt zum Abschied - Screenshot SWR TV
… und Lehmann gelöst beim Festakt in der Rheingoldhalle zu seinem Abschied als Bischof von Mainz und zum 80.Geburtstag – Foto: gik

Es sei, sagte Lehmann noch, vor allem ein Tag des Dankes, der Dank an Gott, an die Gratulanten, an seine Mitarbeiter: „Vergelt’s Gott. Ich danke Ihnen, dass Sie mich so lange ertragen haben.“ Und auch Papst Franziskus dankte Lehmann am Ende noch: Ihn grüße ich und danke für sein Wirken“, sagte der scheidende Bischof. Und zitierte am Ende noch einmal seinen eigenen Leitspruch als Hirte: „Seid wachsam, steht fest im Glauben, seid mutig, seid stark! Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“

Webcam vom Dom zum Abschied

Wie es nun weiter geht? Bis Mitternacht noch ist Karl Lehmann Bischof von Mainz, dann erlischt das Amt – und die Suche nach einem Nachfolger beginnt. Damit tritt die sogenannte „Sedisvakanz“ ein – der vakante Stuhl. Innerhalb von acht Tagen wählt das Domkapitel, das Leitungsgremium des Bistums, einen Diözesanadministrator, der die Leitung des Bistums übergangsweise übernimmt. Dann wird eine Liste von geeigneten Kandidaten aufgestellt, die beim Papst eingereicht wird – der benennt daraus drei Kandidaten. Aus diesen dreien wählt dann das Domkapitel in geheimer Abstimmung den neuen Bischof, den aber der Papst bestätigen und ernennen muss. Für gewöhnlich dauert das rund ein Jahr – „die Kirche“, sagte Södung noch, „ist keine Demokratie.“

Screenshot Karlscam mit Sonne
Die „Karlscam“, eine Live-Cam vom Mainzer Dom zum Abschied für Karl Kardinal Lehmann – Foto: gik

Lehmann aber bleibe ja im Bischofshaus ein Nachbar, sagte Generalvikar Giebelmann zum Abschluss des Festaktes noch – und ein (strenger) Beobachter. Und im Gegenzug schenkte das Bistum seinem scheidenden Bischof eine Webcam mit einer Live-Ansicht des Doms, damit er Tag und Nacht beobachten könne, was an „seinem Dom“ geschehe. Vor allem aber, sagte Giebelmann einen wahren und ganz bescheidenen Satz: „Wir haben dem Herrn Kardinal ein Fest geschenkt.“ Danke, Karl Lehmann, Happy Birthday – und alles Gute im (Un-)Ruhestand!

Info& auf Mainz&: Die „Karlscam“ ist nicht nur für Karl Kardinal Lehmann da – Ihr könnt sie auch genießen. Unter der Webadresse domcam.bistummainz.de findet Ihr sie – oder unter karlscam.de. Das Abschieds-Schlusswort von Lehmann könnt Ihr noch einmal in Ruhe nachlesen, es lohnt sich – hier der Link dazu. Auf den gleichen Seiten könnt Ihr auch alle Festreden, Ansprachen aus dem Gottesdienst und vieles mehr nachlesen, hier der Link zu den Glückwünschen.

 

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