Sie ist eine präzise Beobachterin des deutschen Mittelstandsbürgers, eine genaue Analystin unserer Wohlstandsgesellschaft – und eine schonungslose Offenlegerin der dahinter liegenden Ängste und Verunsicherungen. Anna Katharina Hahn heißt die 34. Mainzer Stadtschreiberin, die am Dienstag ihr Amt in Mainz antrat. Die 47-Jährige kommt aus Stuttgart, dort spielen auch viele ihrer Romane, und wie viele ihrer letzten Vorgänger im Amt des Mainzer Stadtschreibers beschäftigt sich auch Hahn in ihrem Werk ganz mit dem Hier und Heute. Die Stadtschreiberpreis-Jury setzt damit eine Linie fort, Autoren mit hochaktuellem Bezug und vielen Anknüpfungspunkten an unsere Zeit nach Mainz zu berufen.

Die neue Mainzer Stadtschreiberin Anna Katharina Hahn – Foto: ZDF/ Jana Kay

Anna Katharina Hahn sei eine „durch und durch heutige Schriftstellerin“, sagte ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler am Dienstag bei der Einführung der Stadtschreiberin im Mainzer Rathaus laut dem Redemanuskript in der Pressemappe. Mainz& konnte am Dienstag leider ausnahmsweise nicht persönlich zur Stadtschreiber-Einführung – was wir sehr bedauern – aber dank schriftlicher Redemanuskripten, Informationen des ZDF und unserer eigenen Recherche können wir Euch doch einen recht guten Eindruck geben.

Demnach wurde Hahn am 20. Oktober 1970 im schwäbischen Ruit auf den Fildern im Kreis Esslingen geboren. Die verheiratete Mutter zweier Söhne lebt heute in Stuttgart. Nach dem Abitur studierte sie in Hamburg Germanistik, Anglistik und europäische Ethnologie und veröffentlichte bereits in den 1990er Jahren erste kürzere literarische Arbeiten. Im Jahr 2000 erschien ihr erster Band mit Erzählungen, „Sommerloch“, 2009 ihr erster Roman „Kürzere Tage“, mit dem ihr der Durchbruch bei den Kritikern und bei den Lesern gelang.

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„Kürzere Tage“ erzählt, so sagt es ihre Biographie, von den überforderten Müttern und Vätern im gehobenen Stuttgarter Bürgertum, auch Hahns zweiter Roman „Am schwarzen Berg“ (2012) spielt in dem akademischen Mittelstand Stuttgarts – und zwar zu Zeiten des Protests gegen den Tiefbahnhof Stuttgart 21. Und damit sind wir mitten in der Erklärung, was eine „durch und durch heutige Autorin“ ist.

Hahn nämlich portraitiere und seziere zugleich die Welt des bürgerlichen Mittelstands, schaue tief hinter ihre Kulissen und zeige die Risse und Verwerfungen darin auf, lobten die Redner am Dienstag beim Festakt. Im behaglichen und wohlhabenden Schwabenland, im „gehobenen Mittelstand, aufgeklärt, weltoffen und mit Biokost gut ernährt“ zeige Hahn die feinen Risse und die vielen Ängste auf, die durch diese Gesellschaft gingen, sagte Himmler.

Mit Hahns Büchern schaue man direkt in die Wohnungen der Bundesbürger, „in Fenster mit Kinderzeichnungen, schicke Küchen, Feinkostläden, die Altbauten stehen unter Denkmalschutz, es gibt Gartenpartys und ehrgeizige Waldorf-Kindergärten.“ Darin: Überforderte Übermütter, abwesende Karrieremänner, alte Ehepaare mit Alkoholproblemen und wohlerzogene Kinder. „Eine wackelige Kulisse“, sagte Himmler. Und mit ihrer präzisen Sprache und genauen Beobachtungsgabe gelinge es Hahn, die feinen Risse, die durch diese Gesellschaft gingen, bloßzulegen.

Genaue Beobachterin ihrer Umgebung: Anna Katharina Hahn, die neue Mainzer Stadtschreiberin – Foto: ZDF/ Jana Kay

Einen veritablen „Lauschangriff“ nannte das gar der Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD): „Mit dem Geschick einer Chirurgin und dem Gespür einer Detektivin legt sie die Tarnungen, Verkleidungen, Rituale und Tabus frei, hinter denen (die Protagonisten) Schutz suchen. Schutz vor der Einsamkeit, der Isolation und der Leere ihres Lebens und Schutz nicht zuletzt vor sich selbst.“ Hahn belausche und beobachte nämlich auch die innersten Gedanken und Gefühle ihrer Protagonisten, ihre Hoffnungen und Ängste – und fördere mit dem ganz normalen Leben deutscher Mittelstandsbürger etwas ganz anderes zutage: „das nackte Grauen.“ Das mache sich fest, so Ebling weiter, an der Vereinzelung des Individuums, seiner Liebessehnsucht und Bindungsangst, seiner verzweifelten Suche nach Glück und Inhalt durch das schiere Anhäufen von Besitz – und so schildere Hahn „die großen Gesellschaftsthemen und -probleme unserer Zeit.“

„Sie stellen, liebe Frau Hahn, die große Frage, die Frage, die schon immer große Literatur befeuert hat, nämlich: Wie soll man eigentlich leben?“ sagte Himmler. Der psychische und soziale Innendruck ihrer Figuren sei gewaltig, der Leser warte „geradezu darauf, dass es hinter den wohlanständigen Kulissen irgendwann explodiert.“ Hahn selbst habe in einem Interview ihren Figuren attestiert, „dass sie voller Ängste stecken: Angst vor Kriegen und Katastrophen, Angst vor dem Jobverlust, Angst, dass den Kindern etwas zustoßen könnte.“ Und er zitierte Hahn selbst, die einmal zu ihrem ersten Roman „Kürzere Tage“ sagte: „Der kleine Ausschnitt Bürgertum, den ich in meinem Roman thematisiere, baut auf diesen Ängsten auf, die die Leute jeden auf seine Art zucken lassen wie unter Stromstößen.“

Ebling wiederum betonte, damit regten Hahn und ihre Bücher zu intensivem Nachdenken an, „denn fast zwangsläufig befragt man sich beim Lesen selbst, ob die eigenen Lebensziele nicht eher Lebensinszenierungen sind.“ Damit aber beflügelten ihre Werke und Themen auch die Diskussion, „und ich finde, etwas Besseres können wir uns in Mainz für das Amt der Stadtschreiberin gar nicht wünschen.“ Im Übrigen sei Hahn eine Autorin, die „auf Tuchfühlung gehe“ – und damit in Mainz genau richtig: „Schließlich mögen zwar auch wir Mainzer von allerlei diffusen Ängsten und Selbstzweifeln geplagt sein, Bindungsangst und Sozialphobie allerdings scheinen mir nicht dazuzugehören“, sagte der OB. Und so wünsche er der neuen Stadtschreiberin, dass sie mit Mainz schnell vertraut „und hoffentlich sogar ein Stück ‚heimisch‘ in unserer, in ihrer neuen Stadt werden.“

Der Mainzer Stadtschreiberpreis ist mit einem Preisgeld von 12.000 Euro verbunden, dazu steht dem jeweiligen Amtsinhaber für ein Jahr die Stadtschreiber-Wohnung unter dem Dach des Römischen Kaisers zur Verfügung. Erwartet wird zudem, dass der oder die Stadtschreiber/in Lesungen und Veranstaltungen in der Stadt hält und gemeinsam mit dem ZDF ein „Elektronisches Tagebuch“ erstellt. Hahns unmittelbarer Vorgänger Abbas Khider war zwar viel in Mainz unterwegs, eine Dokumentation mit dem ZDF erstellte er allerdings nicht.

Info& auf Mainz&: Zum Archiv der früheren Mainzer Stadtschreiber ab dem Jahr 2000 geht es hier auf der Internetseite der Stadt Mainz. Zur ZDF-Seite der Mainzer Stadtschreiber geht es hier entlang.

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