Es ist wirklich die unglaublichste Ausgrabungsstätte, die Mainz je gesehen hat, und das will schon etwas heißen: In der Mainzer Johanniskirche graben sie sich seit 2013 Schicht um Schicht durch die Geschichte von Mainz, drei bis vier Meter ist der Fußboden der evangelischen Kirche inzwischen tiefer gelegt – und fördert immer neue Funde und Erkenntnisse zutage. Gerade wurde das 100.000 (!!) Fundstück geborgen, eine winzige, unscheinbare Glasscherbe mit großem Hintergrund. Wie alles hier: Die Johanniskirche, wissen die Forscher inzwischen mit Sicherheit, war einst der Alte Dom von Mainz, die große Bischofskirche des Bonifatius – und eine der ältesten erhaltenen christlichen Kirchen Deutschlands.

Boulekugel, Christusanhänger, Fragmente: Funde aus der Mainzer Johanniskirche rund um das 100.000 Fundstück. – Foto: gik

Austernschalen im Westchor, Boulekugeln, ein Alchimistenlabor – immer neue, immer überraschendere Funde fördern die Arbeiten in der Mainzer Johanniskirche zutage. Seit ziemlich genau vier Jahren graben sich die Forscher durch den Fußboden der evangelischen Kirche. Der gotische Bau gleich hinter dem Mainzer Dom galt bis dahin als eher unscheinbarer, kleinerer Kirchenbau. „Die Residenz des legendären Tebartz van Elst kann man vergessen: der Luxus war hier“, sagt Dekan Andreas Klodt: „Die haben hier in Saus und Braus gelebt.“

Der evangelische Dekan kann gar nicht aufhören zu schwärmen, wenn er über die Johanniskirche redet. Dabei ist aus Gemeindesicht die Sache eigentlich eine Katastrophe: seit vier Jahren ist man heimatlos. Eine Fußbodenheizung wollte die evangelische Kirchengemeinde eigentlich nur einbauen – damit begann eine Odyssee in die Vergangenheit: Immer neue spektakuläre Mauern legten die Wissenschaftler unter dem Erdboden der Kirche frei, den Arbeiten fiel nach und nach die komplette Inneneinrichtung zum Opfer: Gestühl, Altar, schließlich die Orgelempore samt Orgel – die Johanniskirche besteht nur noch aus einer nackten Hülle.

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Der Alte Dom von Mainz: Die Johanniskirche stammt aus der Merowingerzeit und ist die wohl älteste Kirche in Deutschland, die noch das alte Raumgefüge zeigt. – Foto: gik

Umso spektakulärer war, was sich im Boden auftat: Römische Fundamente und Grundmauern aus dem Jahr 680 stellten klar – dies ist „der Alte Dom“ von Mainz. „Dies hier war die Bischofskirche des Bonifatius, hier hat er gewirkt“, sagt Klodt. Bonifatius, der große Missionar, war ab 743 Bischof von Mainz und begründete das Erzbistum, seine Bischofsvorgänger legten zwischen 640 und 680 die Grundsteine für den für damalige Zeit monumentalen Dom. Auf alten römischen Fundamenten wurde hier, im Zentrum der Stadt, die erste christliche Kirche in Mainz errichtet. 45 Meter lang und 30 Meter breit war die erste Amtskirche der Mainzer Bischöfe, ein für die Zeit imposantes Bauwerk.

Bis in 16 Metern Höhe sind noch die ursprünglichen Mauern der merowingischen Basilika zu sehen, die Johanniskirche ist damit die einzige Kirche in Deutschland, in der noch ein Raumgefüge aus jener Zeit erhalten ist. König Heinrich II. dürfte hier 1002 von Erzbischof Willigis gekrönt worden sein, ebenso sein Nachfolger Konrad II. – der große Mainzer Dom St. Martin wurde erst 1036 fertig. Der Alte Dom blieb auch nach der Weihe des großen Nachbarn ein bedeutendes Kirchenbauwerk und wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder umgebaut: Die Forscher fanden unter anderem Elemente einer romanischen Chorschranke, einen bunten Mosaikfußboden aus der Gotik und Reste einer prächtigen gotischen Lettneranlage aus dem 16. Jahrhundert.

Auch im 14. Jahrhundert war die Kirche ein reich verzierter, prächtiger Kirchenbau – wie das 100.000 Fundstück belegt: Die winzige, unscheinbare Glasscherbe steckte in einem Stück Steinmetzarbeit, das wiederum gehörte wohl zu einem kleinen „Altarchörlein, sechs bis sieben Meter hoch, mit Maßwerk vom Feinsten und mit Glas verziert“, sagt Grabungsleiter Guido Faccani. Das Alter: aus den 1380er Jahren – die Johanniskirche war damals ein Prachtbau.

Inzwischen, im Juni 2017, haben sich die Forscher bis zu vier Meter tief in den Boden gegraben, Gräber, verschiedene Fußböden, uralte Mauern und hunderttausend Fundstücke ausgegraben. – Foto: gik

Bei den Umbauarbeiten wurde das Bodenniveau immer wieder aufgeschüttet und angehoben, den Schutt dafür nahm man aus der Umgebung. Und dieser Siedlungsschutt gibt nun die Geheimnisse des prallen mittelalterlichen Lebens wieder frei: Mehrere winzige Knochen-Würfel, eine Backform in Form eines Hummers, wohl für Pudding, einen Anhänger mit einem gekreuzigten Christus, diverse Fingerhüte aus Buntmetall aus dem 13. oder 14. Jahrhundert, vermutlich aus Nürnberg stammend. Eine Silbermünze aus dem Mittelalter gibt ihre Geheimnisse noch nicht Preis – das Fundstück muss noch gereinigt werden.

Bruchteile von Ofenkacheln fanden sich, dazu Teile eines Kachelofens – was nicht unbedingt bedeutet, dass die Kirche beheizt war. Sein könnte es aber trotzdem auch, „statt einer Fußbodenheizung finden wir Reste eines alten Ofens“, scherzte Klodt begeistert. Der Kachelofen stammte aus dem Ende des 14. oder der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, war ein „Typ Tanneberg“ und mit Drachen, Greifen und Blumenelementen verziert.

Ofenkachel, Teil eines alten Kachelofens, gefunden in der Johanniskirche. – Foto: gik

„Das ganze Fundspektrum gibt uns ein Bild dessen, was in Mainz überhaupt denkbar ist“, erklärt Facciani, „wie reich und wie arm die Umgebung der Kirche war.“ Und arm war die offenbar keineswegs: Jede Menge Austernschalen fanden die Ausgräber im Westteil der Kirche. Die Austern seien vom Meer gekühlt auf Eis hertransportiert worden, schon im Mittelalter sorgte man dafür, dass solche Köstlichkeiten die Stadt erreichten, berichtet Facciani: „Der Dombezirk mit seinen Stiften, das war ein reiches Viertel.“

„Die haben in Saus und Braus gelebt“, sagt Klodt, „die Globalisierung ist keine Erfindung unserer Zeit.“ Und Zeit für Spiel und Zerstreuung hatte man offenbar auch: Im März gruben die Forscher Fragmente einer Boulekugel aus dem 16. Jahrhundert aus, vor wenigen Tagen fanden sie den Hauptteil der hübschen beige-braunen Kugel. Im Nordquerarm dann stießen die Forscher auf einmal auf jede Menge Glasreste, darunter Fragmente von Gefäßen, die eindeutig Teil eines alchimistischen Destillierapparates waren. Vermutlich wurden hier Pflanzen- und Kräuterextrakte gewonnen und Alkohol hergestellt.

Fratzengesicht auf den Resten eines Mauerwerks in St. Johannis. – Foto: gik

„Das sind alles Geschenke Gottes“, schwärmt Klodt, „die Grabungen und die Erkenntnisse sind ein Geschenk, wir werden hier enorm bereichert.“ Zwei Lager füllen die Fundstücke aus der alten Kirche bereits, was von all den Fundstücken aufgehoben werde, müsse die Auswertung zeigen. Bis zum Jahresende sollen die Forscher noch graben und Funde bergen, das Verstehen werde noch länger dauern, sagt der Dekan: „Ich versuche gebetsmühlenartig zu sagen: Wir haben dann erfasst, aber wir beginnen erst zu verstehen – und das Verstehen wird noch einmal dauern.“ Erst wenn die Forscher verstanden hätten, was einmal wohin gehört habe, könne man an eine Neukonzeption für den Wiederaufbau der Kirche gehen.

Denn die Johanniskirche, sie soll einmal ganz anders werden, eine neue-alte Kirche soll entstehen: „Es wird eine historisch informierte Kirche sein, wir werden natürlich ganz viel zeigen“, sagt Klodt: „Man wird der Kirche am Ende ansehen, dass sie 1.400 Jahre alt ist.“

Stadtpfarrer Gregor Ziorkewicz führte sogar die Romanautorin Rebecca Gablé durch die Johanniskirche – ohne es zu wissen. – Foto: gik

Mit Kosten im Millionenbereich rechnet Klodt, schon die Grabungen dürften mindestens drei Millionen Euro verschlingen. „Wir gehen davon aus, dass die Landeskirche einen großen Teil bezahlt“, sagt Klodt, und vielleicht könne man ja auch Stadt, Land, Bund und EU mit ins Boot holen. Von einem Sponsor träumt der Dekan, der etwa den Wiederaufbau eines der historischen Ältäre finanziert.

120 Gräber wurden bereits in der Kirche gefunden, die Skelette sollen auch in der künftigen Kirche einen Platz finden – vielleicht in Form eines Beinhauses. Mit bis zu 450 Grabstätten rechnen die Experten, nicht alle werden geöffnet. „Wir suchen aber noch den Erzbischof“, verrät Klodt, „einen unserer Erzbischöfe hier zu finden, das würde uns ehren.“ Die alte Kirche am Ende neu zu gestalten, berge unendliche Möglichkeiten: „Diese Kirche ist ein Stolz für Mainz, wir können das ja hier nicht einfach wieder zuschütten“, sagt Klodt – und benennt eine Vision: „Die älteste Kirche von Mainz kann einmal die neueste sein.“

Info& auf Mainz&: Eine ausführliche Geschichte der Johanniskirche samt Grabungsergebnissen findet Ihr in unserer Geschichte „Der Alte Dom von Mainz“. Die Ausgrabungen und die einzelnen Funde werden ausführlich auf einer speziellen Internetseite der St. Johanniskirche dokumentiert, dort findet Ihr noch viel mehr Geschichten.

Die Johanniskirche ist inzwischen auch zu Romanehren gekommen: In ihrem neuesten Roman „Die fremde Königin“ erzählt die Autorin Rebecca Gablé auch vom Mittelalter in Mainz – just zu Zeiten des Alten Doms. Gablé war übrigens selbst zur Recherche in Mainz – und geriet unversehens in eine Führung zu den Ausgrabungen in der Johanniskirche. In ihrem Nachwort dankt sie dem unbekannten Führer, der sie so nett mitnahm und ihre Fragen beantwortet habe. Sie wisse leider seinen Namen nicht, schreibt Gablé weiter – wir schon: Der hilfreiche Geist von Mainz war niemand anderes als Stadtpfarrer Gregor Ziorkewicz von St. Johannis.

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