Es herrscht Stille auf dem Mainzer Markt, als einige hundert Mainzer inmitten der Stadt der 1.131 Juden gedachten, deren Deportationen vor 75 Jahren begann. Am 20. März 1942 mussten 470 Mainzer Juden ihre Häuser verlassen, sich in der Feldbergschule einfinden und auf die Ungewissheit warten, in die die Nazis sie bringen wollten – am Ende war es das Ghetto Piaski bei Lublin mit katastrophalen Zuständen. Ende September 1942, 1943 und Anfang 1944 folgten weitere Deportationen, Fahrten in den Tod. Bis Kriegsende wurden nahezu alle Mainzer Juden deportiert, die nicht vorher emigrieren konnten. Ihrer gedachten die Mainzer am Montagabend namentlich zu Füßen der Heunensäule in einer eindringlichen Gedenkstunde exakt am Jahrestag des Beginns der Deportationen Mainzer Juden.

Zwanzig Banner mit Namen erinnerten am Montagabend an die deportierten und ermordeten Mainzer Juden in den Jahren 1942 bis 1944. – Foto: cibo

Zu der Gedenkstunde hatten die Stadt Mainz, der rheinland-pfälzische Landtag und die jüdische Gemeinde von Mainz aufgerufen, es war das erste Mal, dass der Deportationen in einem solchen Rahmen mitten auf dem Mainzer Markt gedacht wurde. Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) erinnerte in seiner Ansprache an die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen die Juden damals leiden mussten. Nur einen Koffer oder einen Rucksack mit bis zu 50 Kilogramm, dazu noch 50 Reichsmark – mehr durften die Mainzer nicht mitnehmen, als sie ihre Heimatstadt verlassen mussten. Sie mussten ein Schild um den Hals tragen, auf dem ihr Name, ihr Geburtsdatum und ihre Kennnummer stand. „Die meisten sahen diese Stadt nie wieder“, sagte Ebling.

Deportationen nach Theresienstadt und Treblinka, Tote durch Epidemien und Zwangsarbeit

Von der Feldbergschule brachten die Nazis die Menschen zum Güterbahnhof an der Mombacher Straße, wo die Stadt eine Gedenkstätte errichten will. Von dort ging es für die 470 Mainzer Juden nach Darmstadt, wo am 25. März 1942 ein Sonderzug der Reichsbahn mit insgesamt 1.000 jüdischen Menschen in das von Deutschen besetzte Polen abfuhr. Hunger, Cholera- und Typhusepidemien forderten bereits im Ghetto Piaski zahlreiche Todesopfer, andere Deportierte starben vor Erschöpfung bei der Zwangsarbeit. Wer nach wenigen Wochen immer noch am Leben war, wurde in die Vernichtungslager Majdanek und Sobibor gebracht.

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Mitten im Alltag, zu Füßen des Mainzer Doms, fand das Gedenken zum 75. Jahrestag der Deportationen statt. – Foto: cibo

Bei der zweiten großen Deportation am 27. September 1942 wurden weitere 453 zumeist ältere Menschen nach Theresienstadt gebracht. Versprochen wurde ihnen ein „Alterswohnsitz für Juden“, doch sie erwarteten maßlos überfüllte Unterkünfte mit schlimmsten hygienischen Bedingungen. Für viele folgte der Tod durch Seuchen und Unterernährung. Auch fuhren von hier immer wieder Züge nach Auschwitz in die Gaskammern. Die anhaltenden Deportationen brachten etliche Juden dazu, den Freitod zu wählen. Am 30. September 1942 wurden 883 hessische Juden, darunter 178 aus Mainz, vermutlich direkt in das Vernichtungslager Treblinka gebracht und dort nach ihrer Ankunft ermordet. Weitere kleine jüdische Gruppen wurden 1943 und zu Beginn des Jahres 1944 nach Theresienstadt deportiert.

 

Gedenken an die Juden bewusst mitten im Alltag mit Kerzen und Grußbotschaften

„Wir haben diesen Platz im Herzen unserer Landeshauptstadt ganz bewusst gewählt: Denn diese Menschen, die damals deportiert wurden, teilten den Alltag aller Mainzer“, sprach der rheinland-pfälzische Landtagspräsident Hendrik Hering (SPD). Dorthin gehöre das Gedenken, „mitten in den Alltag, wo normalerweise der lebendige Puls unserer Landeshauptstadt schlägt, und wo damals zu viele weggesehen haben, als ihre Mitbürger drangsaliert und abgeholt wurden.“ Heute seien kaum noch Zeitzeugen am Leben. Doch in dieser Zeit, in der Worte wie Demokratie, Freiheit und Solidarität so zerbrechlich seien, müsse man erst recht hinsehen und sich dem stellen, was gewesen sei, betonte Hering.

Vor allem ältere Bürger kamen am Abend zur Mahnwache. Auf dem Markt war ein langer Zaun errichtet worden, an dem auf rund zwanzig Bannern die Namen der damals Deportierten und Ermordeten aufgelistet waren. Die Besucher legten vor den Bannern Kerzen sowie kleine Steine mit Grußbotschaften nieder. Die Banner stehen noch bis Mittwochnachmittag auf dem Marktplatz in der Nähe der Heunensäule.

Kerzen und Grußbotschaften auf Steinen zum Gedenken

Kerzen und Grußbotschaften erinnerten an die Deportierten. – Foto: cibo

Kerzen erinnern im Judentum an die Verstorbenen, auch das Niederlegen von Steinen sei ein Trauerbrauch in vielen Religionen, erklärte Kulturdezernentin Marianne Grosse (SPD). Die persönlichen Nachrichten auf den kleinen Zetteln unter den Steinen seien als Gruß an die Toten zu verstehen. Es waren Zeilen wie „Wir werden Euch nicht vergessen“. Zuvor sprach Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky von der jüdischen Gemeinde Mainz ein Totengebet. Auch wenn nicht alle die hebräischen Worte verstehen konnten, so stachen die Orte der Vernichtung von Menschenleben deutlich hervor: Auschwitz, Treblinka, Bergen-Belsen…

In der jüdischen Tradition sei der Grabstein ganz wichtig, denn er stehe für die Ewigkeit, betonte Stella Schindler-Siegreich, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde. Doch an die Opfer des Holocausts kann nicht auf einem Friedhof gedacht werden: „Das sind Menschen, die kein Grabmal gefunden haben“, sagte Schindler-Siegreich in ihrer kurzen Rede voll persönlicher Gedanken. Umso wichtiger sei es, an die Namen der Verstorbenen zu erinnern – die Namen, die sonst auf dem Grabstein stehen. „Es ist gut, dass wir hier gemeinsam die Namen sprechen. Wir nehmen die Menschen durch ihre Nennung in unseren Bund, in uns auf.“

Vier Redner lasen dann jeweils zehn Namen laut vor. Von einem Tonband erklangen danach noch bis 22.00 Uhr immer wieder alle Namen der 1.131 ermordeten Mainzer Juden, sie hallten über den Marktplatz. Als die Dunkelheit einbrach, erhellten die angezündeten Kerzen die Namen auf den Bannern und machten sie weiter zur Erinnerung lesbar.

Info& auf Mainz&: Die Banner mit den Namen der deportierten und ermorderten Mainzer Juden stehen noch bis Mittwochnachmittag auf dem Marktplatz. Mehr zur geplanten Gedenkstätte für die Deportierten an der Mombacher Straße lest Ihr in diesem Mainz&-Artikel.

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