Es war eines der Standardargumente in der Debatte um den Bibelturm am Gutenberg-Museum: Die Gegner des Turms, ja die Mainzer überhaupt, verstünden einfach nichts von moderner Architektur. Gebäude mit kühner Struktur und großen architektonischen Ideen seien in Mainz einfach nicht vermittelbar, klagten sogenannte Experten wie Architekten und Feuilletonisten, von denen nicht wenige von außerhalb kamen oder auch Mainz nie gesehen hatten. Hätten sie Mainz besucht, ihnen wäre vielleicht ein Phänomen aufgefallen: mindestens ein hochmodernes Gebäude haben die Mainzer richtiggehend ins Herz geschlossen – die Neue Synagoge. Mitten in der Mainzer Neustadt erhebt sich das dunkelgrün-schwarz schimmernde Bauwerk mit der zerrissenen Silhouette und dem hochaufragenden Turm. Die Synagoge gehört zu den modernsten Gebäuden von Mainz, doch von Ablehnung keine Spur: Das hochmoderne Gebilde wird von den Mainzer innig geliebt, ist zu einer Attraktion für Touristen und Mainzer geworden – zu einem Wahrzeichen von Mainz.

Die alten Säulen der alten Mainzer Synagoge vor der Neuen Synagoge in Mainz. – Foto: gik

„Die Akzeptanz der Synagoge ist überraschend gut für ein modernes Gebäude“, sagt Peter Waldmann, stellvertretender Vorsitzende des Landesverbands jüdischer Gemeinden in Rheinland-Pfalz, im Gespräch mit Mainz&: Die Menschen in der Neustadt seien „ganz froh“ über das Gebäude, die Synagoge gar Teil der Attraktivitätssteigerung des Wohngebiets.

„Der Vorplatz ist zum Treffpunkt für junge Paare geworden“, berichtet Waldmann, die säßen gerne unter den Bäumen vor der Synagoge. Vor zwei Monaten lehnten die Mainzer ein anderes Gebäude mit hochmoderner Architektur hingegen in Bausch und Bogen ab: 77,3 Prozent votierten gegen den Bibelturm als Erweiterungsbau des Gutenberg-Museums, der Turm mit seiner hochmodernen Bronze-Fassade aus durchbrochenen Buchstaben fand bei den Mainzer wenig Akzeptanz.

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Warum also funktioniert in der Mainzer Neustadt, was anderswo kategorisch abgelehnt wurde? Die Antwort liegt in Raum und Zeit – und in der Fähigkeit, Architektur in Einklang damit zu bringen und sie – nicht zuletzt – auch zu erklären. Es beginnt, wie immer in Mainz, in der Geschichte. Mainz hat eine lange jüdische Tradition, das mittelalterliche Magenza gehörte um das Jahr 1000 herum gemeinsam mit Worms und Speyer zu den drei Schum-Städten: Zentren jüdischer Gelehrsamkeit im Abendland, wo das aschkenasische Judentum definiert wurde. In Mainz lehrten Berühmtheiten wie Rabbi Gershom bar Jehuda, hier wurden Gebete geschrieben, die Juden in aller Welt bis heute beten.

Ein Gebäude wie ein Wort: Kedusha, Segen, buchstabiert die Fassade der Neuen Synagoge in der Mainzer Neustadt. – Foto: gik

Genau diese uralte Tradition des jüdischen Schrifttums hat der Architekt Manuel Herz in der Neuen Mainzer Synagoge verewigt. Einer Grundgedanken im Judentum sei, „dass man aus Buchstaben die Welt baut“, sagte Herz einmal im Jahr 2010, Schreiben sei „ein Ersatz für das Bauen gewesen: statt Häuser und Städte zu bauen, hat man Bücher geschrieben“. Die Keramikfassade mit ihrer geriffelten Struktur soll deshalb an die älteste Form des Schreibens, das Ritzen, erinnern. Die Form des Gebäudes selbst ist dem Wort Kedushah nachgebildet, hebräisch für „Segen“. Die Wände im Inneren sind dicht bedeckt mit jüdischen Schriftzeichen, aus denen sich Texte jüdischer Rabbiner aus dem Mittelalter hervorheben – große Männer des Judentums, die gerade auch in Mainz lehrten.

Es war der Bau dieser neuen Synagoge, der den Mainzern die Bedeutung ihrer Stadt für das Judentum erstmals seit langer Zeit wieder ins Bewusstsein zurückbrachte. Mainz entdeckte, dass neben Römern und Festungsbauten noch eine dritte Gruppe prägend für die Kultur der Stadt war: das Gelehrtentum der jüdischen Rabbiner. Die Mainzer staunten, wie sie über den Isistempel unter der Römerpassage gestaunt hatten, und in ganz ähnlicher, wenn auch virtueller Weise, wurde das jüdische Magenza nach 1.000 Jahren wieder ein Teil der Stadtgeschichte.

Der Turm ist einem Widderhorn nachempfunden, einem symbolträchtigen Gegenstand im Judentum. – Foto: gik

Die kühne Fassade der neuen Synagoge, ihre besondere Formensprache – Architekt Herz persönlich wurde während des Baus und zur Einweihung am 3. September 2010 nicht müde, die Bedeutung seines Baus zu erklären, die Symbolik überzeugte in der Gutenbergstadt schnell.

Und schließlich war der Standort ja auch unbestritten der richtige: Genau hier, genau 72 Jahre vor der Einweihung, hatte die große Mainzer Synagoge gestanden, war am selben Ort die große Mainzer Synagoge gestanden, niedergebrannt in der Reichskristallnacht von den Nationalsozialisten. Der große klassizistische Kuppelbau, ganz ähnlich der evangelischen Christuskirche, gehörte ab 1912 zu den stolzen Bauwerken von Mainz. Nach dem Zweiten Weltkrieg kündeten nur zwei alte Säulen von der großen Hauptsynagoge, auf dem Platz entstand ein funktionales Bürohochhaus im Stil der 1960er Jahre – kein architektonisches Highlight.

Der Bau der Neuen Synagoge erschien den Mainzern deshalb wie ein Stück Stadtreparatur: Wiedergutmachung von schreiendem Unrecht ebenso wie die Beseitigung eines architektonischen Schandflecks. Der kühne Bau heute erinnert mit seiner zerrissenen Fassade an den Holocaust und steht zugleich für die Wiedergeburt jüdischen Lebens in Mainz – für die Mainzer wurde die Synagoge so zu einem Symbol ihrer Stadtgeschichte.

Kühne Formen, changierende Farben, die Neue Synagoge in Mainz ist zum Anziehungspunkt und zu einem neuen Stadtmerkmal geworden – weil sie Bedeutung hat. – Foto: gik

„Das Gebäude hat eine hohe Akzeptanz“, sagt denn auch die Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Mainz, Anna Kischner, die Gemeinde könne sich vor Anfragen zu Führungen nicht retten. „Ständig“ stünden Touristen aus aller Welt vor der Tür, auch die Mainzer selbst kämen gerne zu Veranstaltungen. Die Landesstiftung Villa Musica veranstalte hier Konzerte, auch Vorträge gibt es, „es ist immer voll“, sagt Kischner. Zwei- bis dreimal pro Monaten halten Ehrenamtliche Führungen durch das Gebäude „Wir wären gerne noch viel offener“, sagt Waldmann, „aber aus Sicherheitsgründen dürfen wir nicht.“ Auch in Mainz ist die Sicherheitslage angespannt, auch hier nimmt Antisemitismus im Alltag zu, erzählen sie: „Kinder trauen sich in der Schule nicht, sich als jüdisch zu outen“, das sei neu. Übergriffe oder gar Anschläge gab es in Mainz bislang nicht, doch die Sicherheitsbehörden sind auf der Hut. Alle Besucher der Synagoge müssten deshalb eine Voranmeldung samt Sicherheitscheck durchlaufen, ohne Voranmeldung geht hier wenig.

Die Begeisterung der Mainzer für die Synagoge jedenfalls scheint die Gemeinde manchmal regelrecht zu überraschen. Doch das Beispiel zeigt: Moderne Architektur in Mainz – das geht. Wenn Raum, Zeit und Kommunikation stimmen.

Info& auf Mainz&: Führungen durch das jüdische Magenza veranstaltet regelmäßig der Verein „Geographie für Alle“, die nächste etwa am Sonntag, 1. Juli, um 14.00 Uhr, Informationen hier: www.geographie-fuer-alle.de. Informationen über die Jüdische Gemeinde Mainz und die Mainzer Synagoge findet Ihr hier im Internet, dort gibt e Ihr Euch zu Führungen anmelden könnt.

 

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