Der Tag der Deutschen Einheit, er sollte eigentlich ein ungetrübter Festtag sein, ein Tag, an dem die Euphorie jene friedliche Revolution im Jahr 1989 wieder aufleben lässt, als die Mauer in einer berauschenden Nacht fiel. Doch der Tag der Deutschen Einheit 2017 ist anders. Nur eine Woche zuvor zog die rechtsextreme AfD mit 12,6 Prozent und 94 Mandaten in den Bundestag ein – die Schockwelle durchspült noch immer die Republik. Dazu gebiert sich die Politik selbst als ein Hort voller Angst: Rund um die offiziellen Feierlichkeiten in Mainz war am Dienstag eine Hochsicherheitszone errichtet worden – mit menschenleeren Straßen, endlosen Absperrgittern und einem Großaufgebot von Polizei. Vor einem Jahr störten Protestierende in Dresden die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag massiv mit Buhrufen und Pfiffen, das soll sich auf keinen Fall wiederholen. Derweil mahnten im Festakt in der Rheingoldhalle die Festredner vor allem eines an: einen neuen Dialog untereinander- und mehr konstruktiven Streit um Lösungen.

Leere Straßen, Absperrgitter, Polizisten – die Straßen rund um Dom und Rheingoldhalle während der offiziellen Feiern zum Tag der Deutschen Einheit. – Foto: gik

 

Am Montag hatten bereits rund 150.000 Menschen das Bürgerfest zum Tag der Deutschen Einheit in Mainz gefeiert, am 3. Oktober aber wird das Volk ferngehalten. Das Polizeiaufgebot ist massiv, 7.400 Polizisten sollen an beiden Tagen die Feiern in Mainz sichern – gegen Terrorgefahr, aber auch gegen Störungen aller Art. Die komplette Innenstadt ist für den Verkehr gesperrt, die Ehrengäste fahren im geschützten Raum vor, nur ausgewählte Bürgerdelegationen dürfen zur Begrüßung Fähnchen schwenken.

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Der Liebfrauenplatz vor dem Gutenberg-Museum ist leer, nur Sicherheitskräfte und Protokollmitarbeiter tummeln sich. Die Journalisten warten in einem abgesperrten Bereich, den sie nicht verlassen dürfen, dreieinhalb Stunden vor dem ersten Termin mussten sie bereits zum Sicherheitscheck – selbst für Großereignisse ist das unüblich. Im Eingang zum Gutenberg-Museum wartet bereits Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) auf die Ehrengäste, die goldene Stadtkette um den Hals. Als erste trifft Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) ein, als derzeit amtierende Bundesratspräsidentin ist sie die Gastgeberin der nationalen Einheitsfeier. Gut gelaunt entsteigt „die MP“ ihrem Wagen, begrüßt die Wartenden, hält einen Plausch mit den Bürgerdelegationen.

Dann rauscht es heran: der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, dann Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), dann Bundestagspräsident Norbert Lammert. Ein kurzer Fotostopp vor dem Gutenberg-Museum, dann verschwinden die jeweiligen Neuankömmlinge im Museumsbau. Nur einer macht es anders: Bundespräsident Frank Walter Steinmeier steigt strahlend aus dem Wagen und eilt sofort zu den wartenden Bürgern, schüttelt Hände, schert sich nicht um die nervösen Sicherheitsbeamten. Auch er ist in Begleitung seiner Frau Elke Büdenbender.

Die Staatsspitzen vor dem Mainzer Dom am Tag der Deutschen Einheit. – Foto: gik

Im Gutenberg-Museum tragen sich die Ehrengäste ins Goldene Buch der Stadt ein, dann treten sie fürs Foto vor die Tür. Der Mainzer Dom im Hintergrund strahlt wie frisch geputzt, und just in dem Moment kommt die Sonne heraus, der Himmel ist blau – Mainz zeigt sich wahrlich von seiner schönsten Seite. Noch einmal verschwindet die Spitze der Bundesrepublik im Museum – Merkel: „Bevor wir hier in der Kälte stehen“ -, dann  geht es hinüber in den Dom zum Ökumenischen Gottesdienst. Es ist Punkt 11.00 Uhr, als sich die Türen wieder öffnen, das „Bad in der Menge“ steht auf dem Programm. Rund 500 Besucher haben es in eine abgesperrte Zone auf den Marktplatz geschafft, alle mussten mehrere Kontrollen und Sicherheitschecks durchlaufen. Alle zwei Meter weit steht ein Polizeibeamter.

„Natürlich stört das“, sagt Astrid Rosenek kopfschüttelnd mit Blick auf die Absperrungen, „es sind ja unsere gewählten Volksvertreter, wenn man da nicht drankommt, ist das schon komisch.“ Die ältere Dame ist gebürtige Thüringerin, „wir haben damals für die Freiheit gekämpft“, sagt sie, damals 1989, als die Mauer fiel, für „diese Freiheit, diese Meinungsfreiheit.“ In Nordrhein-Westfalen lebt sie heute, dass so viele ihrer alten Landsleute nun die rechtsextreme AfD gewählt haben, hat sie geschockt. „Es ist eine gute Demokratie“, sagt sie, „ich versuche, die Ossis davon zu überzeugen.“

Staatsspitzen mit Ehepartnern auf dem Mainzer Markt. – Foto: gik

„Wenn der Herr, dein Gott, dich in ein prächtiges Land führt, dann nimm dich in Acht, dass dein Herz nicht hochmütig wird“, mahnte kurz zuvor im Dom der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf – Moses sprach so zu den Israeliten an der Schwelle zum Gelobten Land. Die Lesung dreht sich um das Wort „Du sollst Dir kein Bildnis machen“.  „Mein Mythos ist erstarrt, ich bin nichts anderes als eine lebendige Postkarte auf dem Felsen“, klagt kurz danach im Rahmen des offiziellen Festaktes in der Rheingoldhalle die Loreley, Symbol der deutschen Romantik. Und Vater Rhein, die alte Sagengestalt, muss feststellen, dass er sein Land eigentlich auch gar nicht kennt: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zog ich wieder aus.“

Es ist etwas faul im Staate Deutschland, und Bürger und Politiker ringen mit den Erkenntnissen, die ihnen das beschert. „Wenn einer sagt, ‚Ich verstehe mein Land nicht mehr‘, dann gibt es etwas zu tun in Deutschland“, sagt Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in seiner Rede, und zitiert den ostdeutschen Barden Wolf Biermann: „Deutschland, Deutschland ist wieder eins/ Nur ich bin noch zerrissen.“ In Deutschland seien neue Mauern gewachsen, konstatiert Steinmeier: Mauern aus divergierenden Lebenswelten, Mauern „rund um die Echokammern im Internet“, Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung oder Wut. Dahinter werde „tiefes Misstrauen geschürt“ gegen die Demokratie und ihre Repräsentanten, warnte Steinmeier, „es sind Mauern, die unserem gemeinsamen ‚Wir‘ im Wege stehen.“

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in der Mainzer Rheingoldhalle. – Foto: gik

„Wir müssen uns ehrlich machen“, fordert Steinmeier, Deutschland brauche eine Politik, „die offene Fragen nicht wegmoderiert“, sondern löse. Dazu gehöre auch die Frage nach Zuwanderung und Asyl: „Welche und wieviel Zuwanderung wollen wir, brauchen wir vielleicht“, fragte Steinmeier. Es gelte, „legale Zugänge nach Deutschland zu definieren, die Migration nach unseren Maßgaben steuert und kontrolliert.“ Nur dann könne die Polarisierung in der Debatte überwunden, die „Mauern der Unversöhnlichkeit“ abgetragen werden.

„Wir brauchen einen konstruktiven Streit, einen Stil, der Probleme erkennt, benennt und fair löst – offen, pragmatisch und ohne das Feuer von Eiferern aller Art“, forderte auch Dreyer, stattdessen habe sie „zunehmend den Eindruck, dass wir in unseren Debatten auf der Stelle treten.“ Mit großer Energie prallten die immer gleichen Positionen aufeinander, oft seien „Klicks wichtiger als Argumente, die Erregung wird zum Maß des Erfolgs.“

Leporello von Deutschland beim Festakt in der Rheingoldhalle: Wir alle hängen zusammen, wir alle sind Deutschland. – Foto: gik

Fragen zur Debattenkultur müssten neu gestellt werden, „wer ist an Diskussionen wirklich beteiligt und über wen wird nur geredet? Wie müssen sich Debatten in unseren Parlamenten verändern, damit die Bürger das Vertrauen zurückgewinnen, dass hier leidenschaftlich um die beste Lösung eines Problems gestritten wird?“ Und wie, fragte Dreyer auch, könnten Medien „trotz des atemberaubenden Drucks so berichten, dass Bürger sich tatsächlich ein Urteil bilden können?“ Es sei dringend Zeit in Deutschland, „aus gewohnten Mustern heraus zutreten“, forderte die Ministerpräsidentin.

„Kennen Sie einen Juden oder eine Jüdin persönlich?“ fragte Till Baeckmann. In einem eindringlichen Statement im Rahmen des Gottesdienstes stellte er – ebenso wie drei andere Mainzer Akteure – seine Aktion vor: „Rent a Jew – Miete einen Juden“ organisiert Begegnungen mit Juden, um mit Klischees und Vorurteilen aufzuräumen. „Unser Fokus liegt auf der Gegenwart“, betonte Baekmann, die Juden erzählten bei den Begegnungen ihre persönlichen Geschichten und gäben Antworten auf Fragen, die man sonst nie stellen könne. „Wir müssen im Dialog bleiben, denn so – und nur so – können wir gemeinsam Deutschland sein“, sagt Baeckmann.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beim Treffen mit Bürgern auf dem Mainzer Markt. – Foto: gik

Auch Steinmeier erzählte von Geschichten aus einem zerrissenen Land und konstatierte, die Geschichten über die Brüche im Leben vieler Ostdeutscher nach dem Mauerfall seien noch immer nicht in der kollektiven Erzählung des Landes angekommen. Heimat dürfe nicht jenen überlassen werden, die Heimat konstruierten als ein „Wir gegen Die, als Blödsinn von Blut und Boden“, mahnte Steinmeier wörtlich: „Verstehen und verstanden werden – das ist Heimat.“ Heimat sei „nichts Gestriges“, die Sehnsucht nach Sicherheit, Entschleunigung, Zusammenhalt und Anerkennung dürfe „nicht den Nationalisten überlassen“ werden. Denn auch auf eines könne Deutschland doch stolz sein, betonte Steinmeier: Seine weltweit einmalige Aufarbeitung der eigenen deutschen Geschichte auch aus der NS-Zeit. „Die Verantwortung für unsere Geschichte kennt keinen Schlussstrich“, machte Steinmeier klar und fügte mit Blick auf die neue AfD-Fraktion hinzu: „erst recht nicht für Abgeordnete des Deutschen Bundestags.“

„Wir sollten vom Glück der Wiedervereinigung erzählen und so den Tag der Deutschen Einheit feiern“, sagte Dreyer und erinnerte daran, dass gerade in Rheinland-Pfalz mit dem Hambacher Schloss die Wiege der Demokratie auf deutschem Boden stand. Von hier begann der Kampf um Demokratie und Meinungsfreiheit, hier wurden Schwarz-Rot-Gold zu den Nationalfarben und den Farben der deutschen Einheit. Schwarz-Rot-Gold stehe eben „nicht für deutsche Enge, sondern für Freiheit, Demokratie und Zusammenhalt“, betonte Dreyer. Und es sei gerade der Rhein, der europäischste aller Flüsse, der immer wieder gezeigt habe, dass Vielfalt kein Hindernis sei, fügte sie hinzu: „Vater Rhein hat einen Migrationshintergrund.“

Und so wartete das Volk auf dem Markt auf seine Vertreter. – Foto: gik

 

Der sagenhafte Vater Rhein unternahm auf der Bühne in der Rheingoldhalle danach eine Entdeckungsreise durch Deutschland, unterstützt von Mainzer Bürgern und einem Chor aus Geflüchteten, die ein beeindruckendes Leporello entrollten – auch eine Hommage an den Buchdruck-Erfinder Johannes Gutenberg. Und natürlich durfte Beethovens Neunte, die Europa-Hymne „Ode an die Freude“ in einem würdigen, durchaus aber auch kurzweiligen Festakt nicht fehlen, an dessen Ende die Loreley Vater Rhein erklärte: „Dafür haben wir beim Hambacher Fest gekämpft, dass man bei einem Staatsakt Witze machen kann. Wir haben schließlich einen eigene Feiertag für Witze – den Rosenmontag.“

Draußen vor der Tür schoben sich inzwischen Menschenmassen beinahe wie an Rosenmontag durch die Stadt – am Nachmittag stürmten die Besucher das Bürgerfest, rund 300.000 feierten nach Angaben der Staatskanzlei friedlich und fröhlich in der Innenstadt. Statt Pfiffen und Buhrufen hatte es auf dem Markt im Übrigen Beifall für die Staatsspitzen gegeben. Das „Bad in der Menge“ auf dem Markt von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war nach fünf Minuten beendet. „Schade“, sagt Astrid Rosenek enttäuscht, „das war sehr kurz.“ Die Bundeskanzlerin war nicht einmal in ihre Nähe gekommen. Ganz hinten am anderen Ende der Absperrung sang ein Gospel-Chor aus Heidelberg „All You need is Love.“

 Info& auf Mainz&: Wir hätten Euch die kompletten Reden des Bundespräsidenten und der Ministerpräsidentin gerne zur Verfügung gestellt, suchen derzeit aber noch nach einem Link im Internet. Hoffentlich kriegen wir noch einen – die Reden waren es definitiv wert, nachgelesen zu werden. Über den Tag der Deutschen Einheit berichtet Mainz& intensiv – einfach mal hierhin gehen: www.mainzund.de

 

 

 

 

 

 

 

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