Der Tag der Deutschen Einheit steht vor der Tür, und nicht wenige stellen sich die Frage: Was soll das Fest eigentlich? In Mainz fällt ein Wanderzirkus gigantischen Ausmaßes ein, gleichzeitig präsentieren sich die immer gleichen Großzelte auf jeder Einheitsfeier, egal wo in der Republik. Bürger fühlen sich durch Absperrmaßnahmen mehr ausgegrenzt als einbezogen, vielen geht der Sinn verloren. Dabei war der Tag der Deutschen Einheit noch nie so wichtig wie heute: Gerade nach dem Ergebnis der Bundestagswahl ist es tausendfach wichtig, für die Demokratie zu werben, für eine friedliches Zusammenleben, gegen Hass und Ausgrenzung auf die Straße zu gehen. Mainz& will einen kleinen Beitrag dazu leisten: Unter dem Hashtag #woraufwirstolzsind werden wir bis 3. Oktober Gedanken Twittern, posten, schreiben, die uns mit Freude und Stolz erfüllen, in diesem Land zu leben.

Als Deutschland unbeschwert feierte: Zuletzt beim Gewinn der Fußball-WM 2014 in Mainz – Foto: gik

Braucht Deutschland mehr Stolz? Rechtsgerichtete Gruppierungen wie die AfD predigen einen neuen Nationalstolz, wollen zurück zu einem Hurra-Patriotismus – die Rechten füllen damit eine Lücke, die Jahrzehnte lange Bescheidenheit der Deutschen aufgerissen hat. Es war die Scham nach dem Holocaust, diesem schrecklichsten aller Massenmorde der Menschengeschichte, die den Deutschen ihren Nationalstolz ausgetrieben hatte – zu Recht. Noch vor zehn, zwanzig Jahren war es verpönt, stolz darauf zu sein, Deutsche/r zu sein, die Kölner Rockgruppe Brings sang einst: „Ich weiß nicht mal, was so ne Frage soll! Es will beim besten Willen in meinen Kopf nicht rein, stolz auf einen Zufall zu sein!“

Das war 2001, knapp zehn Jahre nach den ersten gravierenden ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen, als ein rechter Mob nahezu ungestört gegen ein vietnamesisches Flüchtlingswohnheim wüten konnte – und Brings sangen an gegen eine mögliche neue Welle deutsch-nationaler Ressentiments. Nein, stolz Deutscher zu sein – das wäre uns nie in den Sinn gekommen. Dann kam die Fußball-Weltmeisterschaft 2006, und während des Sommermärchens entdeckte Deutschland auf einmal ein völlig neues Nationalgefühl: ungezwungen, weltoffen, tolerant – und stolz auf die eigenen Jungs. Auf einmal schwenkte man Deutschlandfahnen, feuerte die eigenen Leute an und feierte ein gigantisches Fest der nationalen (Fußball-)Einheit.

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Mauern und Frust statt Vorfreude: So braucht dieses Fest wirklich kein Mensch… – Foto: privat

Man fragt sich im Jahr 2017, was aus dieser friedlichen, fröhlichen, unbeschwerten Lockerheit geworden ist, aus diesem neuen Nationalgefühl, das erstmals Menschen in Ost und West, Nord und Süd, Alt und Jung zu vereinen schien. Die Bundestagswahl 2017 hat überdeutlich gemacht: Die Hassparolen-Schreier, die Spalter, die Wütenden haben Oberhand gewonnen in diesem Land. Nicht unbedingt von der Menge her, doch diese Minderheit schafft es, den Tonfall in der Republik zu bestimmen, zu prägen, ja: zu verändern. Von „jagen“ und „Fressen“ ist auf einmal die Rede, wer besonders laut schreit und provoziert, bekommt besonders viel Aufmerksamkeit – gerade auch in den Medien.

 

Und die Politik reagiert mit Ausgrenzung, Abschottung und Härte – gerade auch im Vorfeld des Tags der Deutschen Einheit in Mainz: Noch nie litt ein Einheitsfest unter so harschen Sicherheitsvorkehrungen wie das Fest in Mainz. Hochsicherheitszone, Sperrgebiet – Stadt und Bürger wurde das vor die Nase gesetzt. Der Gipfel die Bitte an die Anwohner, „bleiben Sie von den Fenstern weg“ – was für ein fatales Zeichen der Abschottung! Aus Angst vor Terror wird eine Stadt zur Festung gemacht, aus Angst vor Pfiffen und Unmutsbekundungen die Bürgern selbst ausgesperrt. Was für eine Bankrotterklärung von Politik und Staat!

Niemand hielt es mal für nötig, sich bei den Bürgern zu bedanken oder gar zu entschuldigen, die Kommunikation haperte erheblich: Die Polizei verwies auf die Stadt, die Stadt auf die Staatskanzlei, die Staatskanzlei auf ihre alles andere als übersichtliche Homepage. Die Verkehrsüberwachung konnte nicht sagen, wann welche Parkplätze gesperrt wurden, Fahrradständer und E-Ladesäulen wurden still gelegt – zuständig mochte dafür niemand sein. Es beschlich einen das Gefühl: Niemand wollte für den Wahnsinn den Kopf hinhalten.

#woraufwirstolzsind – Gutenbergs Erfindung und Meinungsfreiheit, freie Rede, Narretei. – Foto: gik

Die Mainzer fühlten sich in der Konsequenz ausgesperrt, weggedrängt, alles andere – nur nicht einbezogen. Vorfreude auf das Einheitsfest? Suchte man in den Wochen vor der Feier vergeblich. Wie schade. Mehr noch: wie fatal! Gerade jetzt bräuchte es ein Einbeziehen der Bürger, einen Aufstand der Anständigen, ein Aufbegehren der demokratischen Mehrheit! Gerade in einem Jahr wie diesen könnte eine weltoffene, tolerante und sehr bodenständige Stadt wie Mainz der Republik zeigen, wie man feiert – wir hoffen sehr, dass das trotz all der Hindernisse und Beschränkungen noch gelingt.

Denn dieses Land hat eigentlich allen Grund, stolz zu sein auf seine Errungenschaften: eine im Großen und Ganzen wunderbare funktionierende Demokratie, großartige Meinungs- und Pressefreiheit, einen großartigen Erfinder- und Tüftlergeist und nicht zuletzt die fantastischen Menschen, die anpacken, sich engagieren, das Land gestalten. Weltoffenheit Lebensfreude, Kultur, Erfindungen á la Gutenberg, unseren Wein – wir müssen beileibe nicht pauschal „stolz darauf sein, Deutsche zu sein“, aber wir dürfen mit Recht stolz sein auf das, was Menschen in diesem Land geschaffen haben. Genau darauf wollen wir in den kommenden Tagen mit kleinen Beiträgen, Gedanken, Erinnerungen unter dem Hashtag #woraufwirstolzsind hinweisen. Zum Nachdenken anregen. Lust machen, auf ein unverkrampftes Stolz-Sein auf unser Land und seine Errungenschaften. 

Das Bürgerfest wird in den kommenden zwei Tagen vieles davon spiegeln und zeigen: Mainzer Wissenschaft von Herzforschung bis Wolkenstudien, 3D-Druck, Live-Schmieden oder Kühe melken, Handwerk und Hightech, moderne Energieerzeugung und smart Farming – Rheinland-Pfalz wird eine Fülle seiner Errungenschaften präsentieren, nicht zuletzt die grandiosen Weine. Der Tag der Deutschen Einheit aber, so glauben wir, braucht dringend einen Neustart: Ein Fest mehr für die Bürger, kleiner vielleicht, in jedem Fall näher an den Menschen, mehr Feier als Konsum, mehr Miteinander anstatt Materialschlacht. Es wäre wunderbar, wenn Deutschland Nationalfeiern wie in Frankreich entwickeln würde: Lokale Feste voller Lebensfreude, mit Feuerwerk, Wein und gutem Essen. Auf geht’s: erfinden wir den Tag der Deutschen Einheit neu – von unten!

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