Es war genau heute vor einem Jahr, dass ein ominöser Zaun auf der Maaraue bei Mainz-Kostheim auftauchte und ein Drama begann, dass sich im März 2014 niemand vorstellen konnte. Der Bauzaun sperrte buchstäblich über Nacht einen der schönsten Flecken von Mainz ab: die Lesselallee. Acht Monate später rollten Bagger und Motorsägen an, 72 uralte Kastanien wurden binnen Stunden abgeholzt. Im März 2015 herrscht weiter Fassungslosigkeit über das Massaker – und über eine zerstörte Landschaft.

Eingang zur Lesselallee im März 2015 - Foto: gik
Eingang zur Lesselallee im März 2015 – Foto: gik

„Es gibt bis heute Menschen in Kostheim, die nicht dort waren, weil sie es nicht ertragen, sich das anzuschauen“, sagt Marion Mück-Raab, Ortspolitikerin in Kostheim und Sprecherin der Bürgerinitiative „Rettet unsere Kastanien“. Vier Monate nach der Fällung der Allee gebe es „immer noch Menschen, die trauern, immer noch Menschen, die Angst haben, das zu sehen“, sagt sie.

Die neue Flatterulmenallee werde nicht wirklich angenommen, sagt Mück-Raab, die Leute gingen nach wie vor auf der Straße. „Man steht den unschuldigen Bäumen ablehnend gegenüber“, sagt Mück-Raab. Und das sei auch kein Wunder: „Es grünt und blüht überall, nur die Flatterulmen stehen da ohne Blatt, ohne Knospe“, sagt sie: „Es sieht immer noch aus wie ein Kriegsgebiet, das ist eine zerstörte Landschaft.“

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Flatterulmenallee im März 2015 - wo sind die Bäume - Foto gik
Wo sind denn hier die Bäume? Flatterulmenallee im März 2015 auf der Maaraue – Foto: gik

„Man sieht überhaupt nicht, dass da Bäume stehen“, sagt eine Kostheimerin, die gerade mit ihren beiden Hunden den Anfang der Lesselallee erreicht hat, und weist auf die weite Wiese am Main. Leer wirkt das Gelände, der Schotterweg deplatziert, die Wiese daneben ist zum Teil ein Acker. Mondlandschaft, sagen manche auch. Dass entlang des Weges 70 Flatterulmen stehen, man sieht es nicht. Die Holzgerüste, die die winzigen Stämme halten, wirken aus wenigen Metern Entfernung leer.

Was für ein Kontrast zum März 2014! Stolz reckten da 74 Rosskastanien ihre Kronen in den Himmel, es war ein Blättermeer und ein gewaltiges Laubdach, das den verwunschenen Weg zwischen den Bäumen beschattete. Doch der Stadt Wiesbaden war das offenbar ein Dorn im Auge: Am 27. März wurde die Lesselallee gesperrt, angeblich weil die Bäume krank waren und Grünastbruch drohte. Es war beinahe zum Lachen: Im Sommer durchfegten Stürme Mainz, Bäume knickten reihenweise – nur die Lesselallee stand und wankte nicht.

Wunderschöne Lesselallee 2014 - Foto: privat
Gleicher Ort, ein Jahr zuvor: die Kastanien der Lesselallee – Foto: privat

„Ich war vollkommen erschüttert über den Zaun, man hat sich ja gefühlt, wie im Zonenrandgebiet“, erinnert sich Mück-Raab, „ich habe immer für die Allee gekämpft, ich habe mir das nicht vorstellen können.“ Das – das war die komplette Fällung einer Allee, die Anfang 1900 zu Ehren des Kostheimer Bürgermeisters Lessel gepflanzt wurde – es war ein Geschenk der Mainzer an das gerade eingemeindete Kostheim. Einhundert Jahre später noch standen die Bäume wie eine Eins.

Trotzdem hielt die Stadt Wiesbaden hartnäckig an der Version fest, die Bäume seien durch den Wurzelpilz Phytophthora befallen, nicht mehr standfest, die Allee unsicher – kurz: die Bäume müssten gefällt werden. Dringend. Was folgte war ein bis dato nicht gekannter Proteststurm: Kostheimer protestierten monatelang, Politiker der Grünen und der Linken brachten Gegengutachten renommierter Fachexperten, Gegenkonzepte wurden entwickelt – alles vergebens.

Lesselallee 2014 mit Banner "Irren ist menschlich, Dr. Franz" - Foto gik
Half auch nichts: Lesselallee 2014 mit Banner „Irren ist menschlich, Dr. Franz“ – Foto: gik

Ordnungsdezernent Oliver Franz (CDU) setzte die Fällung gegen alle Widerstände durch und scheute auch nicht davor zurück, dabei wissentlich der Presse Unwahrheiten ins Mikrofon zu sprechen – etwa die, dass alle Bäume in der Allee krank seien. Das aber behauptete beim Zeitpunkt der Fällung nicht einmal der städtische Gutachter Roland Dengler. Der hatte zwischendurch einen Maulkorb von den städtischen Verantwortlichen bekommen – der natürlich nie galt – und sprach sich höchstpersönlich auf einer Versammlung in Kostheim für einen Erhalt der Allee aus.

Es war egal, es war einfach egal, wer was wie wann und mit welcher Expertise sagte. Franz und seine Helfer im Umweltamt wollten fällen – basta. Warum, blieb bis zum Schluss unklar. Von einer Machtdemonstration sprachen die Grünen, der Dezernent wolle „mit dem Kopf durch die Wand“, sagten sogar Parteifreunde von Franz – natürlich nur hinter vorgehaltenen Händen.

Die gefällten Baumriesen der Lesselallee, November 2014 - Foto: gik
Die gefällten Baumriesen der Lesselallee, November 2014 – Foto: gik

Die Wiesbadener, sie interessierte die Lesselallee nie genug, um sich zu regen oder zu bewegen. Eine Petition an den Hessischen Landtag – abgelehnt. Eine Klage gegen die Fällgenehmigung – einfach ignoriert. Ein Bürgerbegehren zum Erhalt der Allee – wozu denn ernst nehmen? Oberbürgermeister Sven Gerich (SPD) schließlich ließ gleich drei (!) persönliche Appelle an seine Person ungehört verhallen – die Fällung wurde wie geplant durchgezogen, und danach, behaupten böse Zungen, seien im Umweltamt die Sektkorken geknallt.

Der Demokratie sei dabei ein großer Schaden entstanden, sagt Ronny Maritzen, Wiesbadener Stadtverordneter der Grünen und Vorsitzender des Wiesbadener Umweltausschusses. „Demokratie muss auch die Größe haben zu sagen: wir könnten etwas durchsetzen, aber wir lassen es“, sagt Maritzen mit Blick auf die Fällbeschlüsse, die in drei politischen Gremien gefasst wurden: dem Ortsbeirat Kostheim, dem Umweltausschuss und der Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung.

Acker statt Wiese - Flatterulmenallee im März 2015 - Foto gik
Acker statt Wiese – Flatterulmenallee im März 2015 – Foto: gik

Alle Beschlüsse fielen mit der Mehrheit der regierenden Großen Koalition aus CDU und SPD, kein Volksvertreter hatte die Größe, dem Flehen eines Teils des Volkes Raum zu geben. „Wir sind ja auf den Knien vor denen ‚rumgerutscht“, sagt Maritzen, und es klingt bitter. Gerade Demokraten, findet Maritzen, „sollten die Größe haben zu sagen: wir denken noch mal drüber nach – zumal das ja nichts gekostet hätte.“

Gekostet hat vielmehr die Fällung der Allee und das Pflanzen der neuen Flatterulmen, mehr als 200.000 Euro, sagt Maritzen. „Damit hätte man viele andere schöne Sachen machen können“, fügt er hinzu. Und er glaubt, dass die meisten der Entscheider von 2014 ihr Votum längst bereuen: „Jetzt stehen sie alle wie Kinder vorm Dreck, und die Allee ist weg“, sagt Maritzen. Er selbst gibt zu, dort nicht mehr gewesen zu sein, „ich bin immer noch tieftraurig“, betont er.

„Man kann sich an diesen Anblick nicht gewöhnen“, sagt Mück-Raab, die neuen Ulmen seien einfach zu klein und mickrig. „Vor einem Jahr an Ostern, da waren die Bäume grün“, erinnert sie sich. Zwei wunderschöne Kastanien ständen ja noch, die seien voll mit dicken Knospen. In den Gutachten Denglers hätten gerade diese zwei Bäume die Gefahrenstufe 3 oder 4 gehabt, erinnert sich Mück-Raab, und ärgert sich: „Für wie dumm halten die einen denn?“

Nun ist die Landschaft verwüstet, keine Bank lädt zum Verweilen ein. „Schlimm sieht es da aus, so lieblos, sohingerotzt, das ist so eine Missachtung“, sagt Mück-Raab. Eine Missachtung der Natur, der Landschaft und der Kostheimer, besonders der Kostheimer. „Wenn ich da unten stehe und die Augen zu mache“, sagt Mück-Raab, „dann sehe ich die Allee.“

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