„Ich werde bald tot sein“, schreibt Rizgar, „die Welt schweigt – Warum???“ Rizgar ist ein junger kurdischer Kämpfer in der nordsyrischen Stadt Afrin, seit knapp einer Woche ist die Stadt eingekesselt und liegt unter massivem Beschuss, am Freitagabend wurde das einzige Krankenhaus der Stadt schwer von türkischen Granaten getroffen, meldete Spiegel Online – 16 Menschen dort sollen gestorben sein, darunter zwei schwangere Frauen. „Dass all das bei uns überhaupt nicht zur Sprache kommt, ist unerträglich“, kritisiert der Mainzer Arzt Gerhard Trabert: „Es ist unerträglich, dass die Politik den völkerrechtswidrigen Einmarsch nicht kritisiert.“ Auch der gebürtige Mainzer Journalist Tobias Huch warnt vor „einem Blutbad“ in Afrin und sagt: „Die Lage ist katastrophal.“ Mainz& durfte ein Chatprotokoll einsehen, das Trabert vor fünf Tagen mit dem jungen kurdischen Kämpfer Rizgar in Afrin führte.

Ruinen von Häusern und Autos in einer zerstörten Stadt in der nordsyrischen Region Rojava. – Foto: Trabert

Trabert weiß, wovon er redet: Mehrfach ist der Arzt im vergangenen Jahr und noch einmal Anfang Februar dieses Jahres in die Region Rojava gereist. Den Norden von Syrien kennt man bei uns eigentlich nur als vermintes Kriegsgebiet in den Nachrichten, ein Kampfgebiet, in dem die kurdische Armee lange und sehr erfolgreich gegen die Terrormilizen des Islamischen Staates (IS) verteidigte. Kobane wurde zum Symbol des Widerstands der kurdischen Truppen, allen voran der YPG. Im Windschatten des Bürgerkriegs entstand hier eine autonome Region, unabhängig vom syrischen Machthaber Assad – und es entstand eine ganz eigene Gesellschaftsform: „Rojava praktiziert Demokratie“, sagt Trabert, „das ist die einzige Region im Mittleren Osten, wo es ein demokratisches Konzept gibt.

In den Orten der sogenannten „Demokratische Föderation Nordsyrien“ werde ein basisdemokratisches Modell praktiziert, berichtete Trabert im Juni 2017 nach seiner Rückkehr von einer Reise, bei der er Medikamente und Aufbauhilfe nach Rojava brachte. Es gebe dort eine paritätisch gewählte Regierung aus allen Stämmen, Kulturen und Religionen, sagte Trabert. Die einzelnen Themen des öffentlichen Lebens seien Räten zugeteilt, so gebe es etwa einen Bildungsrat, einen Nachbarschaftsrat, einen Stadtplanungsrat, in ihnen werde die Versorgung organisiert.

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Wiederaufbau mit neuen Häusern in einer Stadt in der nordsyrischen Region – Foto: Trabert

Frauen seien in den Räten mit 50 Prozent beteiligt, auch Minderheiten paritätisch vertreten – und das Modell funktioniere hervorragend. Sogar der Wiederaufbau werde von den Räten organisiert, in Kobane etwa entstünden neue Wohnungen, Felder würden bewirtschaftet, Ernten eingeholt, der Alltag kehre zurück. Doch nun ist der Frieden in Nordsyrien  zerstört, mit Afrin hat sich der türkische Präsident Recep Erdogan ausgerechnet eine der Städte ausgesucht, die bisher vom Krieg verschont geblieben waren. Mehrere hunderttausend Menschen sollen dort eingeschlossen sein.

„Afrin fällt“, schreibt Rizgar, „wir verlieren. Das ist eine Tragödie hier. Eine Million Menschen sind in Gefahr. Wir haben so viele Tote. Zivilisten. Kämpfer sterben. Wir leisten Widerstand.“ Und dann schickt Rizgar eine Filmsequenz, die eine junge Frau zeigt und schreibt: „Meine Freundin, tot vor 5 Tagen. Es tut so weh. Ich muss gehen. Oh mein Gott.“

In einem zerstörten Haus in der nordsyrischen Provinz Rojava – Foto: Trabert

Rizgar sei ein 21-jähriger Kämpfer der kurdischen YPG-Miliz in Afrin, erzählt Trabert. Vor fünf Tagen führte der Mainzer Arzt eine Unterhaltung mit Rizgar über den Nachrichtendienst Whatsapp in Afrin, was der junge Mann schrieb, erschütterte den Arzt, der schon oft in Krisengebieten unterwegs war und unter anderem mit der Sea Watch Flüchtlinge im Mittelmeer retten half. Rizgar habe mit 18 Jahren in Kobane gegen den IS gekämpft, erzählt Trabert, auf seinen Reisen nach Nordsyrien im März und im Juni 2017 habe er „diesen mutigen sensiblen jungen Mann“ persönlich kennen gelernt.

„Er erzählte mir von den Kämpfen und zeigte mir das Gebäude in dem er eingesetzt war“, erinnert sich Trabert. „Und er zeigte mir die Stellen, wo viele seiner Freunde starben. Rizgar ist jung, glaubt an Freiheit und Demokratie.“ Und obwohl der junge Mann kein Deutsch und kaum Englisch spreche, habe er ihm auf seinem Smartphone in Deutsch gezeigt: „Doc, wenn Du etwas brauchst, sag mir Bescheid!“

Nun sitzt Rizgar, der Trabert „Lord Doc“ nennt, in Afrin fest, und die Lage spitzt sich rasant zu. Die türkische Armee bombardiere das Stadtzentrum von Afrin ununterbrochen und nehme keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, sagt Trabert im Gespräch mit Mainz&: „Das ist ein Kriegsverbrechen.“ Seit dem massiven Angriff auf Afrin seien 227 getötete Zivilisten dokumentiert, davon 32 Kinder und 28 Frauen. 651 Zivilisten seien verletzt, davon 87 Kinder und 93 Frauen – die Zahlen stammen von den vergangenen drei, vier Tagen. Trabert hat sie vom Kurdischen Roten Halbmond in Afrin, er steht in Kontakt mit zwei Ärzten in der Stadt. „Eine medizinische Versorgung ist aufgrund der ständigen massiven Bombenangriffe nicht möglich“, berichtet Trabert, „die Ärzte haben einen dringenden Appell: Stoppt die Bombenangriffe, damit wir die Menschen ärztlich versorgen können!“

Kinder in einem Behelfskrankenhaus in der nordsyrischen Provinz Rojava. Die Kinder und auch ihre Eltern haben selbstverständlich zugestimmt, fotografiert zu werden. – Foto: Trabert

„Die Situation ist dramatisch, der Rote Halbmond warnt vor einer humanitären Katastrophe“, sagt auch Tobias Huch, Gründer der Hilfsorganisation Liberale Flüchtlingshilfe. Huch war einst Vorsitzender der Jungen Liberalen in Rheinland-Pfalz, seit einigen Jahren lebt er als Journalist im Ausland. Die Liberale Flüchtlingshilfe mit Sitz in Mainz gründete er bereits vor Jahren, Huch hat enge Kontakte zu Kurden, hat die Region wiederholt bereist.

„Afrin ist eine Stadt des freien Kurdistans, die bisher eigentlich vom Krieg verschont geblieben war“, sagt Huch: „Afrin war eine friedliche Oase im Norden Syriens.“ Die Basisdemokratie in der Region sei „ein System mit wirklicher Teilhabe, in dem auch jede Minderheit ihre Stimme hat“, sagt auch Huch, echte Frauenrechte gebe es dort. „Die alte patriarchalische Kultur wird dadurch durchbrochen, und das funktioniert“, sagt Huch, „die Leute sind begeistert.“ Vor einer Woche noch schaffte es Huchs Hilfsorganisation, einen Lkw voller Medikamente nach Afrin zu bringen, in letzter Minute. Schmerzmittel, Antibiotika, dringend benötigte Hilfsmittel im Wert von fast 20.000 US-Dollar schaffte die Liberale Flüchtlingshilfe Anfang März nach Afrin.

Nun droht der Stadt Afrin das gleiche Schicksal wie dieser zerstörten Stadt in der nordsyrischen Provinz Rojava. – Foto: Trabert

Das ausgerechnet diese demokratische Oase nun von Erdogan bombardiert wird, dass der türkische Präsident von „Terroristen“ und „Befreiung“ spricht, macht Huch wütend. „Hier geht es nicht um Befreiung, sondern um einen Kampf gegen ein demokratisches Gebilde“, sagt er. Erdogan habe Angst, dass die westlich orientierte Basisdemokratie Rojavas „ein Exportschlager wird“. Nun werde eine funktionierende Stadt zerstört, in die sich die Menschen vor dem Krieg geflüchtet hätten. „Es droht ein Blutbad“, warnt Huch.

Die türkischen Truppen hätten gezielt die Wasser- und Stromversorgung zerstört, berichtet auch Trabert, und auch er ist wütend, dass die Welt die Kurden so im Stich lässt. Schlimmer noch: Durch Erdogans Invasion nehme der Terror des Islamischen Staates im Süden wieder zu, „östlich von Rakka flammen die Kämpfe wieder auf“, berichtet Trabert aus seinen Quellen. „Vieles spricht sogar dafür, dass IS-Kämpfer mit Erdogans Truppen gemeinsam kämpfen“, sagt er: „Was Erdogan vorgibt, den Terrorismus zu bekämpfen, wird im Gegenteil gefördert, der IS wieder stark gemacht.“

Chatprotokoll zwischen Gerhard Trabert und Rizgar (Afrin) am 12.3.2018. – Quelle: Trabert

60 Kilo Medikamente brachte auch Trabert im Februar noch nach Afrin, sie würden dort dringendst benötigt, sagt er: „Es gibt kein Insulin, zu wenig Schmerzmittel und Antibiotika“, sagt er. Schätzungenn zufolge seien im Syrienkrieg allein 200.000 bis 300.000 Menschen allein deshalb gestorben, weil sie nicht medizinisch versorgt werden konnten. Nun töteten die türkischen Truppen und ihre Verbündeten ohne Rücksicht. In Rojava, sagt Trabert noch, sei ihm immer wieder begegnet, „dass die Menschen fassungslos sind, dass die Welt schweigt.“

Vor vier Tagen schrieb Trabert an den jungen Rizgar: „Wir werden uns sehen. Ich werde versuchen, Anfang April wieder nach Rojava zu kommen.“ – „Ah, mein Freund, ich werde bald tot sein. Du sprichst mit einem toten Mann“, antwortete Rizgar: „Die Welt schweigt. Warum???“

Info& auf Mainz&: Das gesamte Chatprotokoll zwischen Rizgar und Gerhard Trabert könnt Ihr hier auf Facebook nachlesen. Auf der Internetseite von Traberts Verein Armut und Gesundheit findet Ihr weitere Informationen und Interviews auch zum Krieg in Syrien. Wir haben schon mehrfach über die humanitäre Mission von Gerhard Trabert berichtet, vor allem im Zusammenhang mit seinen Einsätzen auf der Sea Watch im Mittelmeer, einen dieser Berichte findet Ihr hier. Alle Fotos in diesem Artikel wurden uns von Gerhard Trabert zur Verfügung gestellt, er hat sie auf seiner Reise Anfang Februar 2018 durch die Region Rojava gemacht. Die Kinder in einem Behelfskrankenhaus und auch ihre Eltern haben selbstverständlich zugestimmt, für eine Veröffentlichung fotografiert zu werden, sonst hätten wir das Foto nicht veröffentlicht. Die UN hat übrigens inzwischen die Invasion der Türkei in Nordsyrien als einen Verstoß gegen das Völkerrecht eingestuft – passiert ist trotzdem nichts. Den zitierten Bericht auf Spiegel Online findet Ihr hier. Die Homepage der Liberalen Flüchtlingshilfe findet Ihr hier im Internet und hier auf Facebook – dort kann man auch für Hilfe für Afrin spenden.

 

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